Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
auf die Morgenmesse vor. Er war sechsunddreißig Jahre alt.
Einer der ersten, der in die Kirche gerannt kam und ihn am Boden liegen fand, war Renato Natale, der kommunistische Bürgermeister von Casal di Principe und gerade vier Monate im Amt. Kein Zweifel, mit diesem Mord wollte man auch ihn treffen. Natale war der erste Bürgermeister von Casal di Principe, der sich den Kampf gegen die Clans auf die Fahnen geschrieben hatte. Aus Protest hatte er sogar den Kommunalrat verlassen, der seiner Ansicht nach nur noch Entscheidungen absegnete, die von anderen getroffen worden waren. Einmal waren die Carabinieri in das Wohnhaus des Kommunalreferenten Gaetano Corvino in Casale eingedrungen, wo sich die Führungsspitze des casalesischen Clans versammelt hatte. Der Kommunalreferent selbst nahm zur selben Zeit an einer Kommunalratsitzung teil. Auf der einen Seite die Geschäfte der Gemeinde, auf der anderen Seite die Geschäfte, die über die Gemeinde abgewickelt wurden. Geschäfte zu tätigen ist der einzige Grund, weshalb man morgens aufsteht, die Motivation, die einen aus dem Bett holt und auf die Beine stellt.
Renato Natale war jemand, zu dem ich aufschaute wie zu einer Symbolfigur, die Engagement, Widerstand und Mut verkörpert. Für mich eine fast metaphysisch überhöhte, archetypische Gestalt. Mit jugendlicher Scheu verfolgte ich seinen Einsatz für eine ambulante ärztliche Versorgung der Einwanderer, seine Anprangerung der Macht der casalesischen Camorra und ihrer Geschäfte mit Zement und Müll in jenen düsteren Jahren der internen Kriege. Er erhielt Morddrohungen, Warnungen, daß man seiner Familie etwas antun werde, sollte er auf seinem Weg fortfahren. Aber er klagte weiter an, mit allen Mitteln, sogar mit Plakaten, die er überall im Ort anschlagen ließ, so daß jeder von den Machenschaften der Clans erfuhr. Je beharrlicher und mutiger er auftrat, desto unangreifbarer wurde er. Man muß die politische Geschichte dieses Landstrichs kennen, um zu verstehen, was für ein besonderes Gewicht die Begriffe Engagement und Beharrlichkeit besitzen.
Seitdem das Gesetz zur Auflösung von Gemeindeverwaltungen aufgrund mafioser Unterwanderung in Kraft ist, wurden in der Provinz Caserta sechzehn Gemeinderäte aufgelöst, fünf von ihnen wurden zweimal unter ko mmi ssarische Verwaltung gestellt. Carinola, Casal di Principe, Casapesenna, Castelvolturno, Cesa, Frignano, Grazzanise, Lusciano, Mondra-gone, Pignataro Maggiore, Recale, San Cipriano, Santa Maria La Fossa, Teverola, Villa di Briano, San Tammaro. Gelingt es einem Kandidaten, der entschlossen ist, den Clans die Stirn zu bieten, gegen alle Widerstände (Stimmenkauf und Bestechung quer durch alle politischen Lager) zum Bürgermeister gewählt zu werden, muß er sich mit der Verwaltungsbürokratie und den immer knappen Finanzmitteln herumschlagen und hat gegen die totale Bedeutungslosigkeit seines Postens zu kämpfen. Er muß alles einreißen, Stein für Stein abtragen. Ausgestattet mit dem Budget einer kleinen Ortschaft, muß er sich Großkonzernen entgegenstellen und, gestützt auf nur unzureichend gerüstete Polizeikräfte, eine waffenstrotzende Organisation in Schach zu halten suchen. Darum bemühte sich im Jahr 1988 Antonio Cangiano, Kommunalreferent von Casapesenna, der nicht zulassen wollte, daß die Clans öffentliche Bauaufträge unter ihre Kontrolle brachten. Er wurde bedroht, beschattet und vor allen Augen auf offener Straße in den Rücken geschossen. Er hatte die Aktivitäten des casalesischen Clans behindern wollen, sie sorgten dafür, daß er nicht mehr gehen konnte. Cangiano ist an den Rollstuhl gefesselt. Die mutmaßlichen Verantwortlichen des Attentats wurden 2006 freigesprochen.
Casal di Principe ist kein sizilianlsches Dorf im Griff der Mafia. Zwar ist es auch in Sizilien nicht leicht, sich dem kriminellen Unternehmertum entgegenzustellen, aber dort gibt es überall Fernsehkameras, mehr oder weniger profilierte Journalisten und Scharen von Antimafia-Fahndern, die das eigene Engagement auf die eine oder andere Weise unterstützen. In Casal di Principe dagegen steht man auf verlorenem Posten, nur wenige ziehen am selben Strang. Und dennoch glaube ich, daß gerade aus dieser Einsamkeit so etwas wie Mut erwächst, der einen schützt wie eine Rüstung, auch wenn man sich dessen vielleicht gar nicht bewußt ist. Mach weiter. Tu, was du tun mußt, alles andere zählt nicht. Denn die Bedrohung ist nicht immer eine Kugel zwischen die Augen oder zentnerweise
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