Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Polizei und erklärte sich zur Zusammenarbeit mit den Justizbehörden bereit. Er widersprach Nunzio De Falcos Darstellung. Quadrano brachte den Mord in Zusammenhang mit der Fehde zwischen seiner Gruppe und den Schiavone. Quadrano war Capozona von Ca-rinaro, und Sandokans Leute hatten kurz nacheinander vier Mitglieder seines Clans, zwei Onkel und den Ehemann seiner Schwester getötet. Er sagte aus, er und Mario Santoro hätten beschlossen, Aldo Schiavone, einen Cousin Sandokans, aus dem Weg zu räumen, um die Morde zu rächen. Sie riefen De Falco in Spanien an, da keine militärische Operation ohne das Einverständnis der Führung durchgeführt werden konnte. Aber der Boss stoppte von Granada aus die ganze Aktion, weil Schiavone sonst nach der Ermordung seines Cousins sämtliche Verwandten De Falcos, die noch in Kampanien lebten, hätte umbringen lassen. Der Boss kündigte jedoch an, er werde Francesco Piacenti als Übermittler eines Befehls und als Koordinator losschicken. Piacenti fuhr mit seinem Wagen von Granada nach Casal di Principe - einem Mercedes, in den achtziger und neunziger Jahren das Symbol dieses Territoriums schlechthin. Der Journalist Enzo Biagi war überrascht, als er Ende der neunziger Jahre für einen Artikel die Verkaufszahlen von Autos der Marke Mercedes in Italien recherchierte: Casal di Principe belegte in der europäischen Rangliste einen der obersten Plätze. Aber Casal di Principe gebührte noch ein weiterer Spitzenplatz: es war der Ort mit der höchsten Mordrate ganz Europas. Dieser Zusammenhang zwischen den Mercedes-Absatzzahlen und der Zahl von Ermordeten könnte auch in Zukunft ein Charakteristikum der von der Camorra beherrschten Territorien bleiben. Wie Quadrano zunächst aussagte, übermittelte Piacenti den Befehl, Don Peppino Diana umzubringen. Niemand kannte den Grund für diese Anweisung, aber alle waren überzeugt, »il Lupo weiß, was er tut«. Quadrano zufolge erklärte Piacenti, er selbst werde den Auftrag ausführen unter der Bedingung, daß Santoro und ein weiteres Mitglied des Clans ihn begleiteten. Aber Mario Santoro zögerte. Er rief De Falco an und sagte ihm, er sei gegen diesen Mord, aber am Ende machte er doch mit. Um nicht die Mittlerfunktion im Drogenhandel mit Spanien zu verlieren, die ihm »‘o lupo« zugesichert hatte, konnte er sich einem so wichtigen Befehl nicht widersetzen. Aber die Ermordung eines Priesters, noch dazu ohne ein klares Motiv, war kein Auftrag wie jeder andere. Im System der Camorra ist Mord eine schlichte Notwendigkeit, vergleichbar einer Bankeinzahlung, dem Erwerb einer Konzession, dem Bruch einer Freundschaft. Mord gehört zum normalen Tagesgeschäft einer jeden Familie, eines jeden Bosses, eines jeden Mitglieds. Aber einen Priester zu töten, der am Spiel um Macht und Geld nicht beteiligt ist, bedeutete einen echten Gewissenskonflikt. Nach Aussage Quadranos machte Francesco Piacenti mit der Begründung einen Rückzieher, in Casale würden ihn zu viele kennen, er könne daher bei dem Anschlag nicht mitmachen. Mario Santoro dagegen habe sich zwar bereit erklärt mitzumachen, aber Giuseppe Della Medaglia dabeihaben wollen, ein Mitglied des Ranucci-Clans aus Sant’Antimo, der schon bei anderen Operationen mitgewirkt hatte. Dem Kronzeugen Quadrano zufolge verabredeten sie sich für den folgenden Tag um sechs Uhr morgens. Aber das Kommando verbrachte eine qualvolle Nacht. Sie fanden keinen Schlaf, hatten Streit mit ihren Ehefrauen, waren unruhig und nervös. Dieser Priester machte ihnen mehr angst als die Gewehrmündungen gegnerischer Clans.
Della Medaglia erschien nicht am verabredeten Ort. Qua-dranos Aussagen zufolge schickte er Vincenzo Verde, den er in letzter Minute hatte überreden können. Die anderen Beteiligten waren nicht sehr glücklich über diese Wahl: Verde war Epileptiker. Es konnte passieren, daß er sich, nachdem er geschossen hatte, in Krämpfen am Boden wand, die Zunge zwischen den Zähnen, Schaum vorm Mund. Deshalb bemühten sie sich, statt seiner Nicola Gaglione zu gewinnen, der sich jedoch kategorisch weigerte. Santoro wiederum litt an einer Innenohrentzündung. Er konnte sich die Route nicht merken, weshalb Quadrano nach seinem Bruder Armando schickte, der Santoro zur Seite stehen sollte. Eine einfache Operation: vor der Kirche wartet ein Auto auf die Killer, die nach getaner Arbeit ganz gemächlich zum Wagen schlendern. Wie nach einer Morgenandacht. Nach der Exekution hatte das Kommando keine Eile zu fliehen. Quadrano
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