Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
ein langes Gesicht mit spärlichem Bart, stoppelig wie ein Nagelbrett, und spitze Ohren. Krauses Haar, dunkle Haut und einen dreieckigen Mund. Er ähnelt einem Werwolf aus dem Bilderbuch des Horrors. Und trotzdem berichtete ein Lokalblatt - dasselbe, das ausführlich über angebliche Verbindungen Don Peppinos zu dem Clan geschrieben hatte - auf der ersten Seite über ihn als einen vom weiblichen Geschlecht umschwärmten Liebhaber. Aufschlußreich die
Schlagzeile vom 17. Januar 2005: »Nunzio De Falco, König der Schürzenjäger.«
Casal di Principe (Ce)
Sie sind zwar nicht schön, aber sie kommen an, denn sie sind die Bosse; so ist das nun einmal. Ganz oben auf der Rangliste der größten Playboys unter den hiesigen Bossen stehen zwei mehrfach Verurteilte aus Casal di Principe, obwohl sie sich mit der Ausstrahlung eines Don Antonio Bardelimo natürlich nicht messen können. Die Rede ist von Francesco Piacenti alias »Nasone« (große Nase) und Nunzio De Falco alias »‘0 Lupo«. Nach allem, was so erzählt wird, hatte ersterer fünf, letzterer sieben Frauen. Nicht eheliche Beziehungen im strengen Sinn, sondern langjährige Beziehungen, aus denen auch Kinder hervorgingen. Nunzio De Falco hat, so scheint es, mindestens zwölf Kinder von verschiedenen Frauen. Interessanterweise sind nicht alle diese Frauen Italienerinnen. Eine ist Spanierin, eine andere Engländerin, eine andere Portugiesin. Überall, wo die Bosse untergetaucht sind, haben sie eine Familie gegründet. Wie Seeleute? So ähnlich [...] Nicht von ungefähr wurden auch einige dieser Frauen, allesamt schön und ausgesprochen elegant, vor Gericht geladen. Und nicht selten stürzte das schöne Geschlecht die Bosse sogar ins Verderben. Häufig trugen die Frauen indirekt zur Verhaftung der gefährlichsten Bosse bei. Ihre Beschattung durch die Polizei ermöglichte beispielsweise die Festnahme eines so schweren Kalibers wie Francesco Schiavone Cicciariello [...] Selbst für die Bosse gilt also: Frauen bringen Freud, aber auch Leid.
Don Peppinos Tod war der Preis, der für den Frieden zwischen den Clans bezahlt wurde. Auch das Urteil legt diese Vermutung nahe. Die beiden einander befehdenden Gruppen mußten zu einer Aussöhnung gelangen, und sie wurde durch Don Peppinos Ermordung besiegelt. Er wurde als Sündenbock geopfert. Sein Tod löste ein Problem, das allen Familien auf den Nägeln brannte, und lenkte gleichzeitig die Aufmerksamkeit der Ermittler von den kriminellen Geschäften der Clans ab.
Ich hatte gehört, daß Cipriano, ein Jugendfreund Don Peppinos, eine Rede verfaßt hatte, die er bei der Beerdigung hatte verlesen wollen, eine Schmährede, die auf einer Rede Don Peppinos basierte. Doch am Tag der Beerdigung fehlte ihm die Kraft, auf die Beine zu kommen. Er hatte Casal di Principe schon vor Jahren verlassen, er lebte in der Nähe von Rom und hatte sich geschworen, nie wieder nach Kampanien zurückzukehren. Ich hatte gehört, daß sein Schmerz über den Tod Don Peppinos so groß war, daß er monatelang ans Bett gefesselt war. Wenn ich mich bei seiner Tante nach ihm erkundigte, gab sie mir in düsterem Ton stets dieselbe Antwort: »Er hat dichtgemacht. Cipriano hat dichtgemacht!«
Es passiert immer wieder, daß jemand »dichtmacht«. Das hört man nicht selten hier in dieser Gegend. Immer wenn ich diesen Ausdruck höre, muß ich an Giustino Fortunato denken, der Anfang des 20. Jahrhunderts monatelang zu Fuß in den Dörfern des südlichen Apennin unterwegs war, um die dortigen Verhältnisse kennenzulernen. Er übernachtete in den Häusern der Tagelöhner, lauschte den wütenden Schilderungen der Bauern und lernte die süditalienische Frage aus eigener Anschauung kennen. Später dann, als Senator, kehrte er in diese Dörfer zurück und fragte nach den Leuten, mit denen er Jahre zuvor gesprochen hatte, den kämpferischsten, um sie an seinem politischen Reformprogramm zu beteiligen. Nicht selten jedoch erhielt er von den Angehörigen die Antwort: »Er hat dichtgemacht!« Dichtmachen, schweigen bis zum völligen Verstummen, sich in sich selbst verkriechen, um nicht mehr wissen, verstehen, handeln zu müssen. Sie hören auf, Widerstand zu leisten, sie entscheiden sich für ein Einsiedlerleben, um keine Kompromisse schließen und sich mit den Verhältnissen nicht abfinden zu müssen. Auch Cipriano hat dichtgemacht. Man erzählte mir, es habe angefangen, als er zu einem Vorstellungsgespräch bei einer Speditionsfirma in Frosinone gewesen war, wo er sich
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