Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Egidio Coppola, einem Mitglied des casalesischen Clans. Eine prachtvolle Villa, die sehr viel Platz bietet. Die Agentur zur Erneuerung, Entwicklung und Sicherheit (AGRO-RINASCE) der Region, ein Zusammenschluß der Gemeinden Casapesenna, Casal di Principe, San Cipriano d’Aversa und Villa Literno, hat erreicht, daß einige Häuser aus CamorraBesitz in gemeinnützige Einrichtungen umgewandelt wurden. Solange sie nicht umgebaut sind, tragen die beschlagnahmten Villen jedoch noch die Spuren ihrer Erbauer und Bewohner. Selbst wenn längst niemand mehr darin wohnt, bleiben sie Herrschaftssymbole. Im Hinterland von Aversa findet man überall solche Villen, sie scheinen einem Musterkatalog entnommen, in dem sämtliche Baustile der vergangenen dreißig Jahre vertreten sind. Die eindrucksvollsten Villen der Bauunternehmer und Grundbesitzer werden ihrerseits zum Vorbild für die kleineren Villen der Angestellten und Händler. Verfügen erstere über vier dorische Säulenreihen aus Zement, haben letztere nur zwei, und die Säulen sind nur halb so hoch. Dieses Spiel der Nachahmung hat dazu geführt, daß heute das gesamte Territorium mit Villen übersät ist, die um Glanz und Größe wetteifern. Sie sind mit modernsten Überwachungsanlagen ausgestattet und weisen bizarre Eigentümlichkeiten auf - wenn zum Beispiel auf dem Eingangstor eines Anwesens ein Mondrian-Gemälde mit seiner strengen Linienführung reproduziert ist.
Die Villen der Camorristen, Perlen aus Zement, liegen überall in der Provinz Caserta hinter hohen, von Videokameras überwachten Mauern versteckt. Es gibt Dutzende davon, sie sind ausgestattet mit Marmor und Parkett, Säulengängen, Treppen und Kaminen, in deren Granit die Initialen der Bosse eingemeißelt sind. Eine dieser Villen ist ganz besonders berühmt und ganz besonders prächtig ausgestattet. Zumindest ranken sich die meisten Legenden um sie. In Casal di Principe kennt man sie nur unter dem Namen »Hollywood«. Ein Name, ein Begriff. Hollywood, das ist die Villa von Walter Schiavone, Sandokans Bruder, der jahrelang für die Zementgeschäfte des Clans verantwortlich war. Was dieser Name bedeutet, liegt auf der Hand. Man kann sich gut vorstellen, wie weitläufig und luxuriös sie ist. Aber das ist nicht alles. Walter Schiavones Villa hat tatsächlich etwas mit Hollywood zu tun. In Casal di Principe erzählt man sich, der Boss habe seinen Architekten beauftragt, ihm eine Villa zu bauen wie die des kubanischen Gangsters Tony Montana in Miami. Er hatte Scarface immer wieder gesehen und war von dem Film dermaßen beeindruckt, daß er sich mit der Hauptfigur identifizierte. Und mit etwas Phantasie besitzt sein hageres Gesicht tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem des Schauspielers Al Pacino. Alles wurde hier zur Legende. Seinem Architekten soll der Boss eine Videokassette mit dem Film in die Hand gedrückt haben. Er wollte haargenau die gleiche Villa wie in Scarface, diese und keine andere. Eine Geschichte, ganz nach dem Geschmack der Bosse, deren Aufstieg zur Macht oft von Legenden umrankt und mit Großstadtmythen geschmückt ist. Sobald der Name Hollywood fiel, fing immer irgendjemand zu erzählen an, wie er als Kind den Fortgang der Bauarbeiten mit eigenen Augen verfolgt habe, im Vorbeifahren auf dem Rad, bis ganz allmählich die Leinwandvilla Tony Montanas in der Wirklichkeit Gestalt gewann. Eine solche Gelegenheit ergibt sich übrigens selten, denn in Casale beginnen die Bauarbeiten einer Villa gewöhnlich erst, wenn ringsum hohe Mauern errichtet sind. An die Geschichte mit Hollywood habe ich nie geglaubt. Von außen wirkt Schiavones Villa wie ein Bunker, mit
dicken, von bedrohlichen Gittern überragten Mauern. Der Zugang ist durch schußsichere Tore verwehrt. Man kann nicht erahnen, was sich hinter diesen Mauern verbirgt, aber das Bollwerk der Verteidigung läßt an etwas Kostbares denken.
Einen Hinweis allerdings gibt es, eine stumme Botschaft, direkt am Hauptportal, das wie der Eingang zu einem Bauernhaus wirkt: die beiden dorischen, von einem Tympanon überwölbten Säulen - ein krasser Gegensatz zur nüchternen Strenge der umliegenden Gebäudeteile, den dicken Mauern, dem roten Gitter. Das neuheidnische Tympanon ist das Wahrzeichen der Familie, ein Hinweis auf das, was den Besucher im Innern der Villa erwartet. Dieses Tympanon allein wäre für mich der Beweis gewesen, daß diese Villa tatsächlich existierte. Schon oft hatte ich mit dem Gedanken gespielt, da hineinzugehen, um Hollywood
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