Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
mit eigenen Augen zu sehen. Es schien ein Ding der Unmöglichkeit. Selbst nach der Beschlagnahme standen Aufpasser aus dem Clan Wache. Eines Morgens, noch bevor man für die Villa einen neuen Verwendungszweck gefunden hatte, nahm ich meinen Mut zusammen, und es gelang mir tatsächlich hineinzukommen, durch einen Nebeneingang, geschützt vor den Blicken der Aufpasser. Eine wirklich eindrucksvolle Villa, großartig, die Fassade monumental, geradezu ehrfurchteinflößend. Die mit Giebelfeldern unterschiedlicher Größe geschmückten Säulen trugen zwei Stockwerke. Das Innere war als Halbrund gestaltet, das Atrium ein architektonisches Delirium. Wie marmorne Flügel schwangen sich die Flanken einer ausladenden Treppe hinauf in den ersten Stock, wo eine Galerie den Blick auf den darunterliegenden Empfangssalon freigab. Exakt wie bei Tony Montana. Es existierte sogar diese Galerie, von der aus man ins Arbeitszimmer gelangt; hier spielt der Showdown von Scarface. Die Villa ist eine Orgie dorischer Säulen, die äußeren rosa, die inneren aquamarinblau verputzt. Doppelte Säulenreihen gliedern die Flanken der Villa, dazwischen wertvolle schmiedeeiserne Verzierungen. Das gesamte Anwesen hat eine Fläche von dreitausendvierhundert Quadratmetern, die Villa selbst breitet sich auf drei Ebenen auf einer Fläche von achthundertfünfzig Quadratmetern aus. Die Immobilie, Ende der neunziger Jahre rund fünf Milliarden Lire wert, hat heute einen Marktpreis von vier Millionen Euro. Im ersten Stock gibt es riesige Zimmer, jedes überflüssigerweise mit jeweils mindestens einer Toilette ausgestattet. Einige Räume sind luxuriös, andere kleiner und schlichter. Im Kinderzimmer hängen noch die Poster von Sängern und Fußballspielern an den Wänden und ein kleines, rußgeschwärztes Bild mit zwei Engelchen, das vielleicht über einem Bett hing. Ein Zeitungsausschnitt: »Albanova wetzt die Messer.« Albanova, so hieß die Fußballmannschaft von Casal di Principe und San Cipriano d’Aversa, die 1997 von der Antimafia-Behörde aufgelöst wurde. Finanziert vom Clan, war sie ein Spielzeug der Bosse. Die versengten Zeitungsausschnitte auf dem bröckelnden Verputz sind das einzige, was noch an Walter Schiavones Sohn erinnert. Er kam als Jugendlicher bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Vom Balkon geht der Blick über den palmenbestandenen Garten; über einen künstlichen Teich führt eine Holzbrücke zu einer kleinen Insel mit Büschen und Bäumen, umgrenzt von einer Trockenmauer. Als die Fa mili e Schiavone noch hier wohnte, tollten hier Hunde herum, Mastiffs, auch sie Teil der Inszenierung der Macht. Hinter der Villa eine Wiese mit elegantem Swimmingpool in Ellipsenform, die dem Schattenstand der Palmen an heißen Sommertagen entspricht. Der Pool war nach dem Vorbild eines kleinen Sees im Schloßpark von Caserta gestaltet. Die Venus entsteigt hier mit derselben Anmut ihrem Bad wie die im Englischen Garten von Caserta, der im 18. Jahrhundert angelegt wurde. Nachdem der Boss 1996 in den Räumen dieser Villa verhaftet worden war, hatte sie verlassen gelegen. Walter war nicht dem Beispiel seines Bruders Sandokan gefolgt, der in einem herrschaftlichen Bunker unterhalb seiner weitläufigen Villa mitten in Casal di Principe untergetaucht war. Von der Polizei gesucht, lebte Sandokan dort versteckt, in einer Miniaturfestung ohne Türen und Fenster, mit unterirdischen Gängen und natürlichen Grotten als Fluchtwegen, aber auch einer hundert Quadratmeter großen, perfekt ausgestatteten Wohnung.
Eine surreale Wohnung mit Neonlicht und weiß gefliestem Fußboden. Der Bunker verfügte über eine Videotürsprechanlage und zwei Eingänge, die als solche von außen nicht zu erkennen waren. Die Türen öffneten sich erst, wenn man Stahlbetonwände aufschob, die auf Schienen ruhten. Drohte eine Haussuchung, verschwand der Boss durch eine Falltür im Speisezimmer in einem Labyrinth aus insgesamt elf Gängen, die miteinander verbunden waren und eine Art letzte Zuflucht bildeten. Hier hatte Sandokan Militärzelte aufstellen lassen. Ein Bunker im Bunker. Bevor 1998 die Falle zuschnappte, hatte die Antimafia-Sondereinheit ein Jahr und sieben Monate lang auf der Lauer gelegen und war schließlich mit einer elektrischen Säge in das Versteck vorgedrungen. Erst später, nachdem sich Francesco Schiavone ergeben hatte, fand man in der Abstellkammer eines Hauses in der Via Salerno den Hauptzugang, zwischen leeren Plastikkisten und Gartenwerkzeug. In dem Bunker fehlte es
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