Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
dem Tony Camonte des Films nachzueifern, denn er wußte, wenn der Film erst einmal anlief, würde fortan Camonte Capone sein, nicht er selbst.
Das Kino wird zum Vorbild, zur Chiffre für einen bestimmten Stil. Cosimo Di Lauro in Neapel ist dafür ein gutes Beispiel. Wenn man sein Outfit sah, sollte man sofort an The Crow - Die Krähe von Brandon Lee denken. Fehlt den Camorristen das geeignete kriminelle Image, bedienen sie sich einer möglichst wiedererkennbaren Hollywoodmaske und verschaffen sich so auf bequeme Art und Weise Respekt. Vom Kino inspiriert sind oft auch technische Details wie der Griff der Pistole und die Art und Weise zu schießen. Ein langjähriger Mitarbeiter der Spurensicherung von Neapel erklärte mir einmal, wie die Killer der Camorra den Killern im Film nacheifern.
Nach Tarantino haben sie aufgehört, ordentlich zu schießen! Sie halten den Lauf nicht mehr gerade, sondern schräg und flach. Sie halten die Pistole genauso wie in diesen Filmen, und das hat verheerende Folgen. Sie schießen ihre Opfer in den Unterleib, die Leiste, die Beine und fügen ihnen schwere Verletzungen zu. Also sind sie gezwungen, das Opfer mit einem Genickschuß zu erledigen. Dabei wird sinnlos viel Blut vergossen, eine Barbarei, die dem Zweck der Exekution überhaupt nichts bringt.
Die Leibwächterinnen der weiblichen Bosse sehen alle aus wie Uma Thurman in Kill Bill: blonder Pagenkopf und knallgelber Overall. Vincenza Di Domenico aus den Quartieri Spagnoli in Neapel, die eine Zeitlang mit den Justizbehörden zusammenarbeitete, trug den Spitznamen Nikita wie die Killerheldin des Films von Luc Besson. Das Kino, insbesondere das amerikanische, liegt heute nicht mehr in einem fernen Land der Phantasie, wo Abartiges geschieht und Unmögliches Wirklichkeit wird, sondern gleich nebenan.
Ich verließ die Villa und nahm mir dabei Zeit. Ich mußte die Füße hochheben, um nicht im Gestrüpp aus Brombeerbüschen und Unkraut hängenzubleiben, das den Englischen Garten, wie ihn sich sein Besitzer erträumt hatte, inzwischen überwucherte. Das Tor ließ ich offen. Noch vor wenigen Jahren hätten mich etliche Wachposten ins Visier genommen, hätte ich auch nur versucht, mich zu nähern. Jetzt schlenderte ich davon, die Hände in den Hosentaschen und mit gesenktem Kopf, wie nach einem Kinobesuch, wenn man noch ganz mitgenommen ist von dem, was man gesehen hat.
In Neapel merkt man schnell, wie prägend insbesondere der Film ll camorrista (deutsch unter dem Titel Der Professor) von Giuseppe Tornatore war. Man braucht nur den Leuten zuzuhören, es sind seit Jahren die gleichen Sätze.
»Richtet bitte dem Professor aus, daß ich ihn nicht verraten habe.«
»Ich weiß genau, wer er ist, aber ich weiß auch, wer ich bin!«
»Dieser Malacarne ist als Camorrist eine echte Fehlbesetzung!«
»Wer schickt dich?«
»Mich schickt, der Leben geben und Leben nehmen kann.«
Der Soundtrack zum Film wird förmlich zur Erkennungsmelodie der Camorra; man pfeift sie, wenn ein Capozona vorübergeht, oder einfach nur, um einem Ladenbesitzer Angst einzujagen. Selbst in den Diskotheken tanzt man zu drei verschiedenen Versionen, allesamt mit den markantesten Sätzen des Bosses Raffaele Cutolo gemixt, im Film gesprochen von Ben Gazzarra.
Wie um ihr Gedächtnis zu trainieren, wiederholten auch zwei Jungs aus Casal di Principe, Giuseppe M. und Romeo P., die Dialoge aus Il camorrista. Sie spielten ganze Fil ms zenen nach:
»Wieviel wiegt ein picciotto (niedrigster Rang innerhalb der Camorra). Soviel wie eine Feder im Wind.«
Sie hatten noch nicht mal den Führerschein, als sie anfingen, ihre Altersgenossen in Casale und San Cipriano d’Aversa zu drangsalieren, waren also noch keine achtzehn Jahre alt. Zwei Halbstarke. Angeber, Witzbolde, die doppelt soviel Trinkgeld gaben, wie ihr Essen kostete. Das Hemd offen, trotz der spärlichen Haare auf der Brust, dazu der stolzierende Gang nach dem Motto: »Platz gemacht, jetzt komme ich.« Mit hochgerecktem Kinn stellten sie eine Selbstsicherheit und Macht zur
Schau, die nur in ihren Köpfen existierte. Alles machten sie gemeinsam. Giuseppe war der Boss, dem compare immer einen Schritt voraus, Romeo der Leibwächter, seine rechte Hand, der Getreue. Oft nannte Giuseppe ihn Donnie wie Donnie Brasco, auch wenn der nur FBI-Agent war; die Tatsache, daß Brasco im Film in die Rolle des loyalen, überzeugten Mafioso schlüpft, befreite ihn in den Augen seiner Bewunderer von diesem Makel. In Aversa waren die beiden
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