Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Öffentlichkeit, damit sie endlich spurten. Doch die beiden ignorierten die Aufforderung, lümmelten weiter in Bars herum, spielten Videopoker. Die Nachmittage verbrachten sie vor dem Fernseher, schauten sich ihre Lieblingsfilme auf DVD an und prägten sich Sätze und Gesten, Redensarten und Outfits ein. Sie glaubten, es mit allen aufnehmen zu können. Auch mit denen, die das Sagen hatten. Ja, sie bildeten sich ein, wenn sie sich mit denen anlegten, würde man wirklich vor ihnen zittern. Wie Tony und Manny in Scarface erlegten auch sie sich keine Grenzen auf. Sie setzten sich mit niemandem ins Benehmen, sondern fuhren fort mit ihren Schikanen und Einschüchterungen in dem Gefühl, allmählich zu Vizekönigen der Provinz Caserta aufzusteigen. Sie hatten nie Clanmitglieder werden wollen, hatten sich nie darum bemüht. Dieser Weg war ihnen zu langwierig und erforderte zu viel Disziplin; sie hätten sich hocharbeiten müssen, das wollten sie nicht. Außerdem zählte für die Clans schon seit Jahren die Tätigkeit im wirtschaftlichen Management ungleich mehr als der militärische Einsatz, und dementsprechend wurden neue Mitglieder vor allem für das Finanznetzwerk rekrutiert. Giuseppe und Romeo waren das genaue Gegenbild zu diesen neuen Soldaten der Camorra. Sie wollten davon profitieren, daß ihr Heimatort so berüchtigt war. Sie waren keine Mitglieder, wollten aber die
Privilegien eines Camorristen genießen. Und so verlangten sie, daß man sie in den Bars umsonst bediente, daß sie den Sprit für ihre Mopeds gratis bekamen und daß ihre Mütter für ihre Einkäufe nichts bezahlen mußten. Wer es wagte zu protestieren, dem wurden umgehend die Scheiben zertrümmert. Obst- und Gemüsehändler und Verkäuferinnen wurden ge-ohrfeigt. Im Frühjahr 2004 bestellten Abgesandte des Clans die beiden zu einem Treffen an den Stadtrand von Castelvolturno, nach Parco Mare. Ein Landstrich aus Sand, Meer und Müll. Die beiden hofften wohl auf ein verlockendes Angebot, irgendeinen Deal, vielleicht wollte man sie sogar bei einem Anschlag dabeihaben. Dem ersten wirklichen Anschlag ihres Lebens. Wenn man sie schon nicht mit Drohungen einbinden konnte, dann versuchten die Bosse jetzt womöglich, sie mit einem verlockenden Angebot zu ködern. Ich sehe sie auf ihren Mopeds durch die Gegend jagen und immer wieder die entscheidenden Passagen der Filme rekapitulieren, die Momente, in denen jene, die das Sagen haben, der Unbeugsamkeit der neuen Helden nachgeben müssen. So wie die jungen Spartaner mit den Heldentaten von Achilles und Hektor vor Augen in den Krieg zogen, hat man heute Scarface, Goodfellas, Don-nie Brasco und Der Pate im Kopf, ob man nun mordet oder selbst ermordet wird. Jedesmal wenn ich an Parco Mare vorbeikomme, stelle ich mir die Szene vor, wie sie in den Zeitungen berichtet und von der Polizei rekonstruiert wurde. Giuseppe und Romeo auf ihren Mopeds, reichlich verfrüht am verabredeten Ort. Sie glühen vor Eifer. Dann kommt das Auto. Ein paar Männer steigen aus. Die Jungs gehen auf sie zu, um sie zu begrüßen, aber sie stellen sich Romeo in den Weg und fangen an, Giuseppe zusammenzuschlagen. Dann setzen sie ihm den Lauf einer automatischen Waffe auf die Brust und drücken ab. Ich bin sicher, daß Romeo die Szene aus Goodfellas vor sich sah, in der Tommy De Vito, eingeladen, in die Führung der amerikanischen Cosa Nostra aufzusteigen, statt in einen Saal mit den versammelten Bossen in ein leeres Zimmer geführt wird, wo man ihm eine Kugel in den Kopf jagt. Es stimmt nicht, daß das Kino eine Lüge ist, es stimmt nicht, daß man nicht leben kann wie im Film, und es stimmt auch nicht, daß du, wenn du den Blick von der Leinwand wendest, den Unterschied merkst. Es gibt nur einen Unterschied. Es ist der Moment, in dem Al Pacino vor dem Wasserbecken steht, in das sein Double, von Gewehrsalven durchsiebt, gestürzt ist, und sich die blutrote Farbe vom Gesicht wischt. Der Moment, in dem Joe Pesci sich die Haare spült, bis das künstliche Blut im Ausguß abgeflossen ist. Aber das will man gar nicht wissen, und deshalb merkt man auch nicht den Unterschied. Als Romeo Giuseppe am Boden liegen sah, hat er, da bin ich mir sicher, ohne es jemals beweisen zu können, den Unterschied zwischen Kino und Realität, zwischen der szenischen Darstellung und dem echten Blutgeruch, zwischen dem eigenen Leben und einem Drehbuch genau begriffen. Als Nächstes war er dran. Sie schossen ihn in den Hals und erledigten ihn dann mit einem Kopfschuß.
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