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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
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der Schrecken aller, die gerade ihren Führerschein gemacht hatten. Ihre bevorzugten Opfer waren motorisierte Pärchen. Sie rammten das Auto mit ihren Mopeds, und wenn das Pärchen ausstieg, um sich die Personalien für die Versicherung aufzuschreiben, trat einer der beiden auf das Mädchen zu und spuckte ihr ins Gesicht; dann warteten sie darauf, daß der Freund eingriff, und schlugen ihn zusammen. Aber sie legten sich auch mit Erwachsenen an, sogar mit denen, die wirklich das Sagen hatten. Sie tummelten sich in deren Machtbereich und machten, was sie wollten. Sie stammten aus Casal di Principe, das reichte ihrer Ansicht nach aus. Sie wollten allen zeigen, daß man sie zu fürchten und zu respektieren hatte. Wer sich ihnen näherte, sollte den Blick gesenkt halten und es bloß nicht wagen, ihnen ins Gesicht zu sehen. Aber eines Tages überspannten sie den Bogen. Mit einer Maschinenpistole, die sie sich in irgendeinem obskuren Waffenlager der Clans besorgt hatten, traten sie auf offener Straße einer Gruppe von Jugendlichen entgegen. Offenbar konnten sie mit Waffen umgehen, denn als sie in die Gruppe schossen, achteten sie darauf, niemanden zu treffen. Man sollte das Schießpulver riechen, das Zischen der Projektile hören. Doch bevor sie losballerten, sagte einer der beiden einen Text auf. Niemand verstand, was er da faselte, aber ein Augenzeuge erklärte, es habe wie ein Bibeltext geklungen, und daher habe er geglaubt, die Jungs bereiteten sich auf die Firmung vor. Tatsächlich hatte der Text rein gar nichts mit der Firmung zu tun. Er entstammte zwar der Bibel, aber die beiden hatten ihn nicht im Religionsunterricht gelernt, sondern bei Quentin Tarantino. Es war der Text, den Jules Winnfield in Pulp Fiction spricht, bevor er den Jungen umbringt, der Marsellus Wallace’ wertvolles Köfferchen irgendwo hatte stehen lassen:
    Hesekiel 25,17. Der Pfad der Gerechten ist auf beiden Seiten gesäumt mit Freveleien der Selbstsüchtigen und der Tyrannei böser Männer. Gesegnet sei der, der im Namen der Barmherzigkeit und des guten Willens die Schwachen durch das Tal der Dunkelheit führt. Denn er ist der wahre Hüter seines Bruders und der Retter der verlorenen Kinder. Ich will große Rachetaten an denen vollführen, die da versuchen, meine Brüder zu vergiften und zu vernichten, und mit Grimm werde ich sie strafen, daß sie erfahren sollen: ich sei der Herr, wenn ich meine Rache an ihnen vollstreckt habe.
    Giuseppe und Romeo rezitierten den Text genau wie im Film, dann schossen sie. Giuseppes Vater war ein Camorra-Mann, der zunächst ausgestiegen und dann erneut Quadranos und De Falcos Organisation beigetreten war, die später von den Schiavone besiegt wurde. Ein Verlierer also. Aber Giuseppe glaubte, wenn er nur die richtige Rolle spielte, würde der Film seines Lebens vielleicht eine andere Wendung nehmen. Die beiden kannten die lockersten Dialogsequenzen und wichtigsten Passagen sämtlicher Gangsterfilme auswendig. Meistens schlugen sie schon zu, wenn ihnen der Blick ihres Gegenübers nicht paßte. Im Land der Camorra steckt der Blick das Territorium ab; er kann einer Invasion gleichkommen, dem gewaltsamen Eindringen in ein fremdes Haus. Ein Blick kann verletzender sein als eine verbale Beleidigung. Wenn man zögert, jemandem ins Gesicht zu blicken, kommt das bisweilen einer Provokation gleich:
    »Hey, redest du mit mir? Du laberst mich an? Du laberst mich an?«
    Und nach dem berühmten Monolog aus Taxi Driver ging es los mit den Ohrfeigen und den Faustschlägen aufs Brustbein, daß es regelrecht dröhnte und die Schläge noch aus einiger Entfernung zu hören waren.
    Die casalesischen Bosse nahmen das Problem der beiden
    Jungs durchaus ernst. Schlägereien, Beleidigungen, Drohungen, das konnte man nicht einfach durchgehen lassen. Zu viele aufgebrachte Mütter, zu viele Klagen. Sie ließen sie durch einen Capozona »verwarnen«, der sie zur Ordnung rufen sollte. Er knöpfte sie sich in einer Bar vor und sagte ihnen, die Chefs verlören allmählich die Geduld. Aber Giuseppe und Romeo spielten ihren Phantasiefilm weiter, sie prügelten nach Lust und Laune, pinkelten in Mopedtanks. Daraufhin wurden sie »einbestellt«. Die Bosse persönlich wollten mit ihnen sprechen, der Clan konnte ein derartiges Verhalten in seinem Territorium nicht länger dulden. Die paternalistische Toleranz, wie sie hierzulande üblich ist, kehrte sich um in die Pflicht zu bestrafen. Eine Tracht Prügel war fällig, eine tüchtige Abreibung in aller

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