Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Zusammen wurden die beiden knapp dreißig Jahre alt. Auf diese Weise entfernte der Clan der Casalesen eine durch das Kino genährte kleinkri min elle Wucherung. Nicht einmal anonym riefen sie die Polizei oder den Krankenwagen. Sie wollten gar nicht verhindern, daß Möwen an den Händen der Leichen pickten, daß sich Hunde, die an dem mit Müll übersäten Strand herumstreunten, über Münder und Nasen hermachten. Aber davon erzählen die Filme nichts, sie enden kurz vorher.
Letztlich gibt es keinen Unterschied zwischen dem Filmpublikum im Land der Camorra und anderswo. Überall werden Filmsequenzen zu Mythen, an denen man partizipieren möchte. Ein Zuschauer, dem Scarface gefällt und der sich insgeheim mit der Hauptfigur identifiziert, kann hier allerdings tatsächlich Scarface werden, sofern er bereit ist, die Rolle bis zum bitteren Ende zu spielen.
Im Land der Camorra gibt es aber auch massenhaft Liebhaber von Kunst und Literatur. Sandokan besaß im Bunker unter seiner Villa eine ganze Bibliothek mit Werken ausschließlich zu zwei Themenkreisen: der Geschichte des Königreichs beider Sizilien und Napoleon Bonaparte. Er war fasziniert von Glanz und Größe des bourbonischen Staates und rü hm te sich, unter den Beamten der Terra di Lavoro Vorfahren zu haben. Und er war in Bann geschlagen vom Genie Bonapartes, der es vom Artillerieleutnant zum Eroberer halb Europas gebracht hatte. Fast wie Sandokan selbst, der von einem einfachen Mitglied zum Generalissimus eines der mächtigsten Clans Europas aufgestiegen war. Sandokan, ehemals Medizinstudent, vertrieb sich in seinem unterirdischen Bunker die Zeit damit, daß er Ikonen sowie Porträts von Bonaparte und Mussolini malte. Noch heute kann man welche erstehen, in völlig unverdächtigen Läden in Caserta: außergewöhnliche Heiligenbilder, auf denen Sandokan an die Stelle von Christi Antlitz sein eigenes gemalt hatte. Sandokan liebte die großen Epen der Literatur. Homer, die Artussage und Walter Scott waren seine Lieblingslektüre. Aus Liebe zu Scott hatte er eines seiner zahlreichen Kinder auf den stolzen und wohlklingenden Namen Ivanhoe taufen lassen.
Eigentlich verraten die Namen der Söhne immer die Passion ihrer Väter. Der neapolitanische Boss Giuseppe Misso, Clanchef im Viertel Sanitä, hat drei Enkel: Ben Hur, Gesu (Jesus) und Emiliano Zapata. Vor Gericht gerierte er sich stets als politischer Führer und konservativer und rebellischer Denker, und kürzlich hat er sogar einen Roman geschrieben, I leoni di marmo, der in Neapel binnen weniger Wochen x-mal verkauft wurde. Die Grammatik läßt zu wünschen übrig, dafür wird mit furioser Leidenschaft vom Neapel der achtziger und neunziger Jahre erzählt, für den Boss die entscheidenden Jahre seines Aufstiegs. Er selbst tritt in der Rolle des einsamen Kämpfers gegen die Camorra der Schutzgelderpressungen und der Drogen auf, als Verteidiger eines verschwommenen ritterlichen Ehrenkodex des Raubs und des Diebstahls. Bei seinen wiederholten Verhaftungen im Laufe seiner beachtlichen kriminellen Karriere hatte Misso stets Werke von Julius Evola und Ezra Pound bei sich gehabt.
Augusto La Torre, der Boss von Mondragone, interessiert sich für Psychologie, ist ein begeisterter Leser C. G. Jungs und Kenner der Werke Sigmund Freuds. Auf der Liste der Bücher, die sich der Boss in die Zelle bestellt hat, stehen wissenschaftliche Werke der Psychoanalyse, und während der Gerichtsverhandlung zitierte er immer wieder Lacan und stellte Überlegungen zur Gestaltpsychologie an. Kenntnisse, die der Boss, solange er noch an der Macht war, als Wirtschaftsmanager und militärischer Befehlshaber eingesetzt hatte wie eine überraschende Waffe.
Ein Schöngeist unter den Camorristen ist Tommaso Prestieri, ein enger Weggefährte Paolo Di Lauras. Er ist Produzent der meisten neomelodici, der neapolitanischen Schnulzensänger, und ein feinsinniger Kenner zeitgenössischer Kunst. Viele Bosse sammeln Kunst. Pasquale Galasso hatte in seiner Villa ein Privatmuseum mit rund dreihundert wertvollen Antiquitäten; das Prunkstück seiner Sammlung war der Thronstuhl Franz’ I. von Bourbon. Luigi Vollaro »‘o califfo«, der Kalif, nannte ein Gemälde des von ihm hochgeschätzten Botticelli sein eigen.
Prestieri wurde seine Liebe zur Musik zum Verhängnis. Die Polizei verhaftete ihn im Teatro Bellini in Neapel, wo er, seit längerem untergetaucht, ein Konzert besuchte. Nach seiner Verurteilung erklärte er: »Meine Freiheit ist die Kunst, es
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