Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
Vom Netzwerk:
spielt keine Rolle, ob ich im Gefängnis sitze oder nicht.« Ein vom Unglück verfolgter Boss wie er, der zwei seiner Brüder in einem blutigen Bandenkrieg verloren hat, findet einen Ausgleich in Kunst und Musik, die ihm Heiterkeit und ein unverhofftes inneres Glück schenken.
Aberdeen, Mondragone
    Der Boss und Psychoanalytiker Augusto La Torre war ein Liebling Antonio Bardellinos. Schon in jungen Jahren hatte er die Rolle des Vaters übernommen und war zum unumschränkten Clanchef der »Chiuovi« aufgestiegen, wie man sie in Mondragone nannte. Der Clan beherrschte den Norden der Provinz Caserta, das südliche Latium und die gesamte Costa Domizia. Er war mit den Gegnern Sandokan Schiavones verbündet, hatte aber unternehmerisches Geschick bewiesen und gezeigt, daß er in der Lage war, das Territorium zu beherrschen - die einzigen Qualitäten, die den Feindseligkeiten zwischen Camorra-Familien ein Ende setzen können. Die unternehmerische Tüchtigkeit des La-Torre-Clans führte zu einer Annäherung an die Casalesen, die ihnen die Möglichkeit gaben, mit ihnen gemeinsam, aber auch autonom zu agieren. Der Name Augusto war nicht zufällig gewählt. Die La Torre pflegten ihren Erstgeborenen seit jeher die Namen römischer Kaiser zu geben. In der römischen Geschichte folgt zwar Tiberius auf Augustus, aber die La Torre kehrten die historische Reihenfolge einfach um: Augusto La Torres Vater hieß Tiberio.
    Die berühmte, unweit des Lago Patria erbaute Villa des Scipio Africanus, Hannibals Kampf um Capua, die unbesiegbare Streitmacht der Samniten - die ersten europäischen Guerillakämpfer, die die römischen Legionen schlugen und in die Berge flüchteten -, sind im Bewußtsein der Familien dieses Landstrichs präsent als Erzählungen einer fernen Vergangenheit, der man sich gleichwohl verbunden fühlt. Ähnlich weit verbreitet wie dieses größenwahnsinnige Geschichtsbewußtsein der Clans ist die Vorstellung, Mondragone sei die Hauptstadt der Büffelmozzarella. Zwar wurde auch ich von meinem
    Vater nach Mondragone geschickt, um Mozzarella-Vorräte zu kaufen, aber zu sagen, wo tatsächlich der beste Mozzarella produziert wird, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Die geschmacklichen Unterschiede sind einfach zu groß. Die Mozzarella aus Battipaglia ist süßlich und zart, die aus Aversa salzig und fest, die aus Mondragone mild und rein im Geschmack. Einen Beweis für die Güte ihrer Mozzarella jedoch besitzen die Käsemeister aus Mondragone dennoch. Ein guter Mozzarella-Käse hinterläßt einen Nachgeschmack am Gaumen, die Bauern sprechen von »‘o dato ‘e bbufala«, dem Atem der Büffelkuh. Wenn im. Mund nicht dieser Büffelgeschmack zurückbleibt,, taugt die Mozzarella nichts. In Mondragone ging ich immer gern auf dem Landungssteg spazieren. Auf und ab. Bevor er abgerissen wurde, war er im Sommer einer meiner Lieblingsplätze. Eine Zementzunge, als Bootsanlegestelle ins Meer hineingebaut. Eine sinnlose Konstruktion, die nie genutzt wurde. Irgendwann einmal wurde Mondragone plötzlich zum Ziel aller jungen Männer aus der Provinz Caserta und dem Agro Pontino, die nach England auswandern wollten. Auswandern als Lebenschance, endlich weggehen, aber nicht, um Kellner zu werden, Küchenjunge bei McDonald’s oder Barmann, der statt eines Arbeitslohns ein paar Pint dunkles Bier bekommt. Kontaktpersonen in Mondragone würden ihnen helfen, vor Ort eine günstige Mietwohnung zu finden und von den potentiellen Arbeitgebern offen und freundlich empfangen zu werden. In Mondragone konnte man Leute treffen, die einem Jobs bei einer Versicherung oder einer Immobilienagentur vermittelten. Und selbst ein verzweifelter Hilfsarbeiter oder ein Langzeitarbeitsloser konnte hier mit den richtigen Beziehungen einen ordentlichen Vertrag und eine anständige Arbeit bekommen. Mondragone war das Tor nach Großbritannien. In Mondragone jemanden zu kennen bedeutete seit Ende der neunziger Jahre plötzlich, daß man nach seinem wahren Wert bemessen wurde, ohne Referenzen oder Empfehlungen vorlegen zu müssen. Eine Seltenheit, eine absolute Seltenheit in Italien, und im Süden geradezu ein Ding der Unmöglichkeit.
    Denn um danach beurteilt zu werden, was man ist, braucht es hierzulande immer jemanden, der einen protegiert, jemanden, dessen Fürsprache wenn schon nicht Vorteile bringt, so doch zumindest dafür sorgt, daß man überhaupt in die engere Wahl kommt. Sich ohne Protektion irgendwo vorzustellen ist, als wollte man ohne Arme und Beine laufen: man

Weitere Kostenlose Bücher