Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
würde. Wie viele Wäschen ein bestimmter Stoff aushalten würde, bevor er die Form verlor. Pasquale führte mich in die komplizierte Welt der Stoffe ein. Ich wurde sogar zu ihm nach Hause eingeladen. Seine Familie, seine drei Kinder und seine Frau machten mich fröhlich. Sie waren immer in Bewegung, aber ohne Hektik. Auch an jenem Abend rannten die Kinder barfüßig durch die Wohnung. Ohne Lärm zu machen. Pasquale hatte den Fernseher eingeschaltet, eine Weile herumgezappt, starrte dann regungslos auf den Bildschirm und kniff die Augen zusammen wie ein Kurzsichtiger, obwohl er sehr gute Augen hat. Niemand redete, aber das Schweigen schien sich plötzlich zu verdichten. Luisa, seine Frau, merkte etwas, denn sie trat vor den Fernseher und schlug die Hand vor den Mund, wie wenn man etwas Schlimmes wahrnimmt und einen Schrei unterdrückt. Im Fernsehen beschritt Angelina Jolie den roten Teppich der Oscar-Verleihung. Sie trug einen traumhaft schönen Hosenanzug aus weißer Atlasseide. Eines jener maßgeschneiderten Modelle, mit denen italienische Modeschöpfer darum konkurrieren, daß die Stars sie in dieser Nacht vor aller Welt vorführen. Diesen Anzug hatte Pasquale in Schwarzarbeit in einer Fabrik in Arzano geschneidert. Man hatte ihm nur gesagt: »Das geht in die USA.« Pasquale hatte Hunderte von Kleidungsstücken für die USA gefertigt. An diesen weißen Hosenanzug erinnerte er sich noch genau, wußte noch die Maße, alle Maße. Den Halsausschnitt, die Ärmel. Und die Hose. Er war mit der Hand in die Hosenbeine gefahren und erinnerte sich noch, welchen nackten Körper er sich darin vorgestellt hatte, wie dies jeder Schneider tut. Ein nackter Körper ohne Erotik mit seinem Muskelaufbau und seiner Skelettstruktur. Eine Nacktheit, die bekleidet werden, bei der Muskeln, Körperbau und Haltung berücksichtigt werden müssen. Pasquale hatte den Stoff am Hafen abgeholt, auch daran erinnerte er sich noch gut. Er sollte drei Kleidungsstücke schneidern, mehr erfuhr er nicht. Seine Auftraggeber wußten, für wen sie bestimmt waren, aber ihn setzte davon niemand in Kenntnis.
In Japan wurde für den Schneider der Braut des Thronfolgers ein staatlicher Empfang gegeben; dem der ersten deutschen Kanzlerin widmete eine Berliner Zeitung ganze sechs Seiten, auf denen von handwer kli chem Können, Phantasie und Eleganz die Rede war. Pasquale hatte eine Wut im Bauch, für die er kein Ventil fand. Doch jeder Mensch hat ein Recht auf Genugtuung, und jedem Verdienst gebührt Anerkennung. Pasquale wußte tief in seinem Innersten, daß er hervorragende Arbeit geleistet hatte, und das wollte er auch aussprechen können. Er wußte, daß er Besseres verdient hatte. Aber ihm hatte man nichts gesagt. Er hatte es nur aus Zufall gemerkt, aus Versehen. Eine sinnlose Wut, die tausendmal recht hat, aber daran nichts ändern kann. Pasquale hätte es niemandem sagen können, nicht einmal vor der Zeitung am nächsten Tag flüstern. Er konnte nicht sagen: »Diesen Anzug habe ich genäht.« Niemand hätte etwas Derartiges geglaubt. In der OscarNacht trug Angelina Jolie ein Kleidungsstück, das Pasquale aus Arzano gemacht hat. Ganz oben und ganz unten. Millionen Dollar und sechshundert Euro im Monat. Wenn alles, was möglich war, getan ist, wenn man all sein Talent, sein Geschick, seine Meisterschaft und seine Hingabe für eine Tat, ein Werk in die Waagschale geworfen hat und sich doch nichts ändert, dann will man sich einfach nur bäuchlings aufs Nichts, ins Nichts fallen lassen. Langsam verschwinden, die Minuten über sich verstreichen lassen, sich darin versenken, als wäre es Treibsand. Nichts, einfach nichts mehr tun. Nur noch atmen, einfach atmen, nichts sonst. Denn nichts kann deine Lage ändern: nicht einmal ein Kleid, das Angelina Jolie in der OscarNacht trägt.
Pasquale verließ die Wohnung und schloß nicht einmal die Tür hinter sich. Luisa wußte, wohin er ging, wußte, daß er nach Secondigliano fahren würde, und sie wußte auch, wen er dort treffen würde. Sie warf sich aufs Sofa und vergrub ihr Gesicht wie ein Kind im Kissen. Als Luisa zu weinen anfing, kam mir aus irgendeinem Grund ein Gedicht von Vitto-rio Bodini in den Sinn. Es erzählt davon, was die Bauern des Südens taten, um nicht eingezogen zu werden und in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs Grenzen verteidigen zu müssen, von deren Existenz sie keine Ahnung hatten. Die Zeilen lauten:
Während des anderen Krieges legten Bauern und Schmuggler / Blätter von Xanti-Yaca
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