Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
haben. Ich fuhr schon immer gern mit meiner Vespa auf den Wegen, die diese Deponien säumen. Es ist, als bewegte man sich zwischen Zivilisationsresten, den Ablagerungen der Warenströme, den Pyramiden der Produktion. Wege, auf denen die Mülltransporter zahllose Kilometer zurückgelegt haben. Feldwege, zur Erleichterung des Lkw-Verkehrs oft kurzerhand betoniert. In den hier deponierten Abfällen spiegelt sich die geographische Karte der Regionen, aus denen der Müll stammt. Alles, was aus Produktion, Handel und Gewerbe nicht mehr gebraucht wird, findet hier ein Bleiberecht. Eines Tages pflügte ein Bauer seinen Acker, der genau an der Grenze zwischen den Provinzen Neapel und Caserta lag; er hatte das Stück Land gerade erst gekauft. Der Motor seines Traktors ging immer wieder aus, als wäre das Erdreich an diesem Tag ganz besonders fest. Und auf einmal beförderten die Pflugscharen Papier zutage. Geld. Tausende und Abertausende, Hunderttausende von Geldscheinen. Der Bauer sprang von seinem Traktor und fing an, in fliegender Hast die Fetzen aufzusammeln, als wäre es die versteckte Beute aus einem großen Banküberfall. Aber es waren nur Papiergeldschnipsel, die Farbe ausgebleicht. Geschredderte Banknoten der italienischen Staatsbank. Tonnenweise zu Ballen gepreßte Lirescheine, die man aus dem Verkehr gezogen hatte. Die alte italienische Währung, die man hier verscharrt hatte, vergiftete jetzt einen Blumenkohlacker mit Blei.
In der Nähe von Villaricca entdeckten die Carabinieri ein Terrain, auf dem Papierabfall aus der Reinigung von Kuheutern gelagert war. Er stammte aus Hunderten von Zuchtbetrieben in Venetien, der Emilia Romagna und der Lombardei. Kuheuter müssen ständig behandelt werden, zwei-, drei-, viermal am Tag. Bevor die Saugnäpfe des Melkgeschirrs an den Zitzen angesetzt werden, gilt es, die Euter zu desinfizieren. Kuheuter sind anfällig für Mastitis und ähnliche Entzündungen und werden eitrig und blutig; trotzdem bekommt die Kuh keine Verschnaufpause. Im Fall einer Entzündung müssen die Euter jede halbe Stunde gereinigt werden, sonst gelangen Eiter und Blut in die Milch, die damit ungenießbar wird. Als ich über das Gelände mit dem Euterpapier ging, roch es nach verdorbener Milch. Vielleicht war es nur Einbildung, vielleicht hatte mir die gelbliche Farbe der Papierberge die Sinne vernebelt. Tatsache ist, daß dieser über Jahrzehnte hinweg angehäufte Müll neue Horizonte geschaffen, neue Gerüche heimisch gemacht und Hügel hat entstehen lassen, die es bis dahin nicht gab. Berge, durch den Abbau von Sand und Kies abgetragen, wuchsen plötzlich wieder in die Höhe. Im kampanischen Hinterland steigen einem die Gerüche sämtlicher Industriesparten in die Nase. Beim Anblick des arteriellen und venösen Bluts der Fabriken, das hier ins Erdreich einsickert, denkt man unwillkürlich an die bunt gestreiften Knetgummibälle von Kindern. Unweit Grazzanise wurde der gesamte Kehricht der Stadt Mailand abgelagert. Jahrzehntelang hat man alles, was die städtischen Straßenkehrer Mailands allmorgendlich aus den Abfallkörben sammelten, hierher verbracht. Aus der Provinz Mailand gelangen täglich achthundert Tonnen Müll nach Deutschland. Insgesamt produziert werden jedoch tausenddreihundert Tonnen. Fünfhundert Tonnen verschwinden also spurlos. Keiner weiß, wohin. Höchstwahrscheinlich werden diese geisterhaften Abfallmengen überall im Mezzogiorno verteilt. Sogar Tonerkartuschen für Drucker kontaminieren den Boden, wie die Operation »Madre Terra« (Mutter Erde) zeigte, die 2006 von der Staatsanwaltschaft Santa Maria Capua Vetere koordiniert wurde. Auf Müllkippen zwischen Villa Literno, Castelvolturno und San Tammaro trafen nachts Lkws ein, um die Tonerkartuschen der toskanischen und lombardischen Büros abzuladen. Offiziell transportierten diese Laster Kompost, der als Düngemittel verwendet werden sollte. In der Luft lag ein beißend scharfer Geruch, vor allem bei regnerischem Wetter. Der Boden war mit sechswertigem Chrom angereichert. Es gelangt über die Atemwege in den Körper, bindet sich an die roten Blutkörperchen, lagert sich im Haar ab und verursacht Magengeschwüre, Atemnot, Nierenschäden und Lungenkrebs. Jeder Quadratmeter Erde ist mit irgendeiner Art von Abfall befrachtet. Ein befreundeter Zahnarzt erzählte mir einmal, ein paar Jugendliche seien mit Totenschädeln zu ihm gekommen, mit menschlichen Schädeln, denen er die Zähne reinigen sollte. Laute kleine Hamlets mit einem Schädel
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