Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
vierundzwanzig Jahre alt, ein Killer, der mutmaßlich für die Clans von Ercolano arbeitete, zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Der Ermittlungsrichter bezeichnete die Kindergärtnerin als »eine Rose in der Wüste«, erblüht in einem Land, in dem die Wahrheit stets die der Mächtigen ist, eine Wahrheit, die nur selten angezwei-felt und gewinnbringend verschachert wird wie eine Ware.
Und doch hat dieses Bekenntnis zur Wahrheit ihr das Leben schwer gemacht. Fast als wäre sie nach diesem mutigen Zeugnis irgendwie hängengeblieben und ihre ganze Existenz wäre allmählich ausgefranst. Sie hatte vor zu heiraten und wurde verlassen, sie verlor ihren Arbeitsplatz und lebt heute an einem geschützten Ort von einer geringfügigen staatlichen Zuwendung. Ein Teil ihrer Familie hat sich von ihr distanziert, ein Abgrund der Einsa mk eit tat sich vor ihr auf. Eine Einsamkeit, die man ganz besonders schmerzlich im Alltag spürt, wenn man tanzen gehen möchte und niemanden findet, der einen begleitet; wenn Handys läuten, ohne daß jemand rangeht, und die Freunde sich immer seltener und schließlich überhaupt nicht mehr melden. Nicht die Zeugenaussage an sich flößt Angst ein, nicht die Tatsache, daß man einen Killer identifiziert hat, erregt Ärgernis. So banal ist die Logik der Omerta, der undurchdringlichen Mauer des Schweigens, nicht. Was das Handeln der Kindergärtnerin so anstößig machte, war, daß sie es für selbstverständlich, natürlich und notwendig erachtete, Zeugnis abzulegen. Wer eine solche Einstellung hat, glaubt noch an die Wahrheit. Aber in einem Land, wo das wahr ist, was Geld einbringt, und das eine Lüge, was einen zum Verlierer macht, bleibt eine solche Entscheidung schlechterdings nicht nachvollziehbar. Und so kommt es, daß selbst die Menschen, die einem nahestehen, plötzlich irritiert sind und sich von demjenigen entlarvt fühlen, der den Grundregeln eines Lebens zuwiderhandelt, dessen Regeln sie selbst ganz fraglos akzeptiert haben. Akzeptiert haben ohne Scham, denn letztlich muß es ja so laufen, weil es so schon immer gelaufen ist, weil man aus eigener Kraft ohnehin nichts ändern kann und es daher besser ist, seine Kräfte zu schonen, in den alten Bahnen zu verharren und so zu leben, wie es einem zugestanden wird.
In Aberdeen staunte ich nicht schlecht, wie sich der Erfolg des italienischen Unternehmertums hier materialisiert hatte. Ein seltsames Gefühl, diese Ableger zu sehen, wenn man die Wurzeln kennt. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber beim Anblick all der Restaurants, Bürogebäude, Versicherungen und Wohnhäuser fühlte ich mich an den Füßen gepackt, auf den Kopf gestellt und so lange geschüttelt, bis mir das Kleingeld, die Haustürschlüssel und sämtliche anderen Sachen aus den Hosentaschen fielen - und nicht nur aus den Hosentaschen, auch aus dem Mund. Als wollte man mir sogar die Seele herausschütteln, um sie zu Geld zu machen. Die Kapitalströme flossen von überallher, wie ein Strahlenkranz, dessen Energie sich dem Nukleus im Zentrum verdankt. Etwas wissen ist nicht dasselbe wie etwas mit eigenen Augen sehen. Ich hatte Matteo zu einem Vorstellungsgespräch begleitet. Selbstverständlich wurde er eingestellt. Er wollte mich überreden, ebenfalls in Aberdeen zu bleiben.
»Hier genügt es, daß du bist, was du bist, Robbe’...«
Daß Matteo aus Kampanien stammte, also über jene gewisse Aura verfügte, war die Voraussetzung dafür, daß man ihn nach seinem Lebenslauf, seinem Universitätsdiplom und seinem Auftreten beurteilte. Mit dieser Herkunft, die ihn in Schottland zu einem Staatsbürger mit allen damit verbundenen Rechten machte, war er in Italien Abschaum gewesen, ohne Protektion und ohne daß sich jemand für ihn interessierte. Der geborene Verlierer, dessen Leben automatisch in den falschen Bahnen verlief. Ein nie gekanntes Glücksgefühl erfüllte ihn. Je euphorischer er wurde, desto bitterer fühlte ich meine Schwermut. Ich habe es nie geschafft, mich wirklich zu distanzieren, von meinem Geburtsort loszukommen, von den Verhaltensweisen derjenigen, die ich haßte, von den brutalen Mechanismen, die das Leben und die Sehnsüchte zerstören. Bestimmte Herkunftsorte prägen einen wie einen jungen Jagdhund sein Instinkt, der ihn über die Felder jagen läßt. Man muß dem Hasen nachrennen, ganz unwillkürlich. Selbst wenn man ihn laufen läßt, mit zusammengebissenen Zähnen, nachdem man ihn erwischt hat. Und ich folgte den Pfaden, den Straßen,
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