Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
den Wegen mit einer Zwanghaftigkeit, die mir selbst gar nicht bewußt war - mit der verfluchten Fähigkeit, das Jagdrevier, in das ich immer tiefer vordrang, mit allen Sinnen zu verstehen.
Ich wollte Schottland so schnell wie möglich verlassen und nie wieder zurückkommen. Ich nahm das nächste Flugzeug. An Bord konnte ich nicht schlafen, die Turbulenzen und die Dunkelheit vor dem Fenster schnürten mir die Luft ab wie eine Krawatte, deren Knoten genau auf den Kehlkopf drückt. Vielleicht kam dieses klaustrophobische Gefühl gar nicht von dem schmalen Sitz, dem winzig kleinen Flugzeug und der Dunkelheit draußen, sondern von der Ahnung, zermalmt zu werden von einer Realität, die einem Hühnerstall voll ausgehungerter, dichtgedrängter Tiere ähnelte - Tiere, die fraßen, um anschließend gefressen zu werden. Als existierte nur ein einziges Territorium, eindimensional und mit Regeln, die überall verstanden werden. Es war dieses Gefühl der Ausweglosigkeit, dieses Gefühl, daß man gezwungen war, entweder an der großen Schlacht teilzunehmen oder nicht zu sein. Ich kehrte nach Italien zurück, im Kopf ganz deutlich diese zweispurige Straße, auf deren einer Bahn sich in rasendem Tempo die Kapitalströme ergossen, um in den großen europäischen Wirtschaftskreislauf einzumünden, und auf deren anderer Bahn all das in den Süden gelangte, was andernorts als ansteckendes Gift gegolten hatte. Eine einzige große Fluktuation durch die Maschen einer offenen und flexiblen Wirtschaft - ein unaufhörliches Hin und Her, ein Kreislauf, der dort Reichtümer akkumulierte und hier, wo die Metamorphose ihren Ausgang nahm, keinerlei Entwicklung anstieß.
Der Müll hat den Bauch Süditaliens aufgebläht, geweitet wie den Bauch einer Schwangeren, in dem sich nie ein Fötus entwickeln wird, sondern nur Geld, ausgestoßen als Fehlgeburt, damit der Schoß gleich wieder fruchtbar, die Leibesfrucht erneut ausgestoßen und der Schoß abermals fruchtbar wird, wieder und wieder, so lange, bis der Körper verbraucht, die Blutgefäße verkalkt, die Bronchien verstopft, die Nerven-verbindungen zerstört sind. Weiter und immer weiter.
Feuerland
Es ist nicht schwer, seiner Phantasie freien Lauf zu lassen. Sich einen Menschen, ein Geschehen oder sonst irgend etwas auszudenken. Ohne große Mühe kann man sich sogar sein eigenes Sterben vorstellen. Kompliziert wird es erst, wenn man versucht, sich klarzumachen, wie die Wirtschaft funktioniert, in allen ihren Einzelheiten. Die Finanzströme und Gewinnanteile, die Handelsoperationen, Verbindlichkeiten und Investitionen. Denn es gibt keine anschauliche Oberfläche, um ein Bild zu gewinnen, keine konkreten Sachverhalte, die man sich einprägen könnte. Man kann sich zwar die Determinanten der Wirtschaft vor Augen führen, nicht aber die Geldströme, die Kontobewegungen, die konkreten Operationen. Man ist versucht, die Augen zu schließen, um sich besser konzentrieren zu können, sie zusammenzukneifen, bis hinter den Lidern diese gleißenden psychedelischen Bilder zu flimmern beginnen.
Immer wieder habe ich versucht, mir ein Bild von den Mechanismen der Wirtschaft zu machen, mir Produktion und Verkauf, Handelsrabatte und Gewinnmaximierung konkret vorzustellen. Es ergab sich einfach kein Organisationsschema, kein präzises, kompaktes Bild. Mir scheint, es besteht nur eine Möglichkeit: sich vor Augen zu führen, was die Wirtschaft auf ihrem Weg hinterläßt, ihren Spuren zu folgen, ihren Rückständen, die wie die Partikel abgestorbener Haut zu Boden fallen.
Mülldeponien können den Wirtschaftskreislauf am besten veranschaulichen. Auf ihnen sa mm elt sich an, was der Konsum hinterlassen hat, und das ist mehr als nur der Rest dessen, was einmal produziert wurde. Der Süden ist Endstation sämtlicher giftigen Abfälle, sämtlicher wertlosen Überbleibsel, sämtlicher
Rückstände aus der Produktion. Der gesamte illegal entsorgte Müll ergibt nach einer Schätzung der Umweltschutzorganisation Legambiente vierzehn Millionen Tonnen, das entspricht einem 14 600 Meter hohen Berg auf einer drei Hektar großen Grundfläche. Der Mont Blanc ist 4810, der Mount Everest 8844 Meter hoch. Dieser Müllberg, der auf keiner Landkarte auftaucht, wäre der höchste Berg der Erde. In meiner Vorstellung gleicht diese gewaltige Erhebung den Endlossträngen einer DNA, auf der alles gespeichert ist - Handelsoperationen, die Subtraktionen und Additionen der Finanzexperten, die Profitraten. Eine gigantische Abfolge immer
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