Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
gefährlichem radioaktivem Müll gefüllt und in den achtziger und neunziger Jahren in Somalia versenkt worden waren, an die somalischen Strände zwischen Obbia und Warsheik gespült. Die öffentliche Aufmerksamkeit gefährdete ihre neuen Entsorgungsrouten, sozusagen ihre Überdruckventile. Aber es gab keinen echten Grund zur Sorge. Die Hilfsaktionen für die Opfer der Flutkatastrophe lenkten die öffentliche Aufmerksamkeit von den neben den Leichen schwi mm enden Giftbehältern ab. Sogar im Meer wird Müll abgeladen. Immer häufiger füllen die Entsorger den Frachtraum von Schiffen mit Giftmüllfässern, simulieren einen Unfall und versenken die Fässer dann im Meer. Dabei kassieren sie doppelt: von der Versicherung die Entschädigungssumme für den »Unfall« und von den Giftmüllproduzenten für die Entsorgung der gefährlichen Substanzen tief unten auf dem Meeresgrund.
Während die Clans mühelos Areale für die Müllentsorgung fanden, schafften es die kommunalen Verwaltungen in der Region Kampanien nach zehn Jahren unter kommissarischer Verwaltung wegen camorristischer Unterwanderung nicht, ihren Abfall zu entsorgen. In Kampanien lagerte illegal der Müll aus ganz Italien, doch der kampanische Müll wurde nach Deutschland verbracht - zu einem Preis, der fünfzigmal höher lag als der, den die Camorra von ihren Kunden verlangt; man wußte sich einfach keinen anderen Rat. Die Ermittlungen ergaben, daß allein in der Provinz Neapel fünfzehn von achtzehn Müllentsorgungsfirmen direkt mit den camorristischen Clans zusammenarbeiten.
Der Landstrich erstickt im Müll, aber eine Lösung scheint nicht in Sicht. Jahrelang wurde der Müll in sogenannten Ökoballen gelagert, komprimiert und mit weißen Plastikplanen zu riesigen Paketen verschnürt. Allein die Entsorgung der Ballen, die sich bis heute angehäuft haben, würde sechsundfünfzig Jahre dauern. Die einzige Lösung, die man bisher gefunden hat, sind Müllverbrennungsanlagen. In Acerra erhob sich dagegen so erbitterter Widerstand und Protest, daß schon der Gedanke, hier eine Müllverbrennungsanlage zu bauen, im Zensurfach verschwand. In puncto Müllverbrennungsanlagen nehmen die Clans eine ambivalente Haltung ein. Einerseits sind sie dagegen, weil sie am liebsten auch in Zukunft von Mülldeponien leben würden, die sie, falls nötig, einfach in Brand stecken. Der akute Notstand erlaubt darüber hinaus die Spekulation mit Flächen Land, auf denen die »Ökoballen« entsorgt werden sollen - Flächen, die sie selbst anmieten. Sollte aber doch eine Müllverbrennungsanlage entstehen, sind sie bereit, den Bau und später dann den Betrieb der Anlage zu übernehmen. Auch da, wo noch keine staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen durchgeführt wurden, geht die Bevölkerung bereits auf die Barrikaden. Eingeschüchtert, nervös, verängstigt. Die Leute befürchten, daß in diesen Öfen der Müll aus halb Italien verbrannt werden soll und daß angesichts der giftigen Substanzen, die die Clans hierherschaffen würden, sämtliche Garantien auf die Umweltverträglichkeit derartiger Öfen Makulatur wären. Jedesmal, wenn eine stillgelegte Mülldeponie wiedereröffnet wird, sind Tausende von Menschen zur Stelle, um sich zu wehren. Sie befürchten, daß als gewöhnlicher Müll deklarierter Giftmüll hier abgelagert wird, und sie leisten lieber Widerstand bis zur Erschöpfung, als ihren Wohnort zu einer wildwuchernden Lagerstätte für immer neuen Dreck verkommen zu lassen. Als der Regionalkommissar von Basso dell’Olmo bei Salerno im Februar 2005 versuchte, den örtlichen Müllabladeplatz wiederzuöffnen, formierten sich spontane Wachkommandos, die den Lkws den Zugang zur Deponie verwehrten. Tag für Tag, rund um die Uhr und um jeden Preis. Der vierunddreißigjährige Carmine Iuorio stand in einer bitterkalten Nacht Wache und erfror. Als man ihn am Morgen wecken wollte, fand man ihn mit vereistem Bart und fahlblauen Lippen. Er war seit mindestens drei Stunden tot.
Mülldeponie, Erdloch, Grube - diese Begriffe werden immer mehr zu konkreten, anschaulichen Synonymen für die tödliche Gefahr, der die Menschen aus gesetzt sind, die im Umkreis dieser Stätten leben. Wenn die Halde voll ist, wird der Abfall kurzerhand angezündet. Das Dreieck Giugliano - Villaricca -Qualiano in der Provinz Neapel heißt längst nur noch Feuerland. Neununddreißig Mülldeponien, davon siebenundzwanzig mit gefährlichen Substanzen, die jährliche Zuwachsrate beträgt dreißig Prozent. Die Technik ist
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