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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
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ausgebrochen ist, haben sich für viele die Grenzen des Erträglichen ins Unendliche verschoben. Sie warten, was noch passieren wird. Jeden Tag lernen sie, was noch alles möglich ist, was sie noch aushalten müssen. Sie lernen, nehmen es mit nach Hause und leben weiter. Die Carabinieri machen Fotos, der Kleinlaster mit der Leiche fährt weg.
    Ich gehe ins Polizeipräsidium. Irgend etwas werden sie wohl zu diesem Tod sagen. Im Pressesaal warten die üblichen Journalisten und einige Polizisten. Nach einer Weile werden Kommentare laut: »Die bringen sich gegenseitig um, besser so!« »Da sieht man, was passiert, wenn du dich der Camorra anschließt.«: »Das viele Geld hat dir gefallen, jetzt mußt du dir auch diesen Tod gefallen lassen, Miststück.« Das übliche Gerede, aber immer angewiderter, verzweifelter. Als wenn die Leiche vor ihnen läge und jeder ihr etwas vorzuwerfen hätte, die schlaflose Nacht, den Krieg, der kein Ende nehmen will, das riesige Militäraufgebot an allen Ecken und Enden Neapels. Die Ärzte brauchen Stunden, um die Leiche zu identifizieren. Jemand bringt ihn mit einem Capo in Verbindung, der vor einigen Tagen verschwunden ist. Die Leiche ist jetzt eine der vielen, die in den Kühlzellen des Cardarelli-Krankenhauses darauf warten, einen möglichst schrecklichen Namen zu bekommen. Dann das Dementi.
    Einige schlagen die Hände vors Gesicht, die Journalisten müssen so oft schlucken, bis ihnen der Mund ganz trocken wird. Die Polizisten schütteln den Kopf und fixieren ihre Schuhspitzen. Die Kommentare brechen ab, schuldbewußt. Die Tote war Gelsomina Verde, nur zweiundzwanzig Jahre alt. Entführt, gefoltert, getötet mit einem Schuß in den Hinterkopf aus nächster Nähe, so daß das Projektil aus der Stirn austrat. Dann war das Mädchen ins Auto, in ihr eigenes Auto geworfen und verbrannt worden. Gelsomina war befreundet gewesen mit Gennaro Notturno, der für die Clans arbeitete und zu den Spaniern gewechselt war. Das Mädchen war nur wenige Monate mit ihm zusammengewesen, und das war einige Zeit her. Aber irgend jemand hatte sie eng umschlungen gesehen, vielleicht auf einer Vespa. Oder im Auto. Gennaro war zum Tode verurteilt, hatte sich aber irgendwo verstecken können, wer weiß, wo, vielleicht in einer Garage in der Nähe der Straße, wo Gelsomina ermordet wurde. Er hatte es nicht für nötig gehalten, sie zu schützen, weil er nicht mehr mit ihr verkehrte. Aber die Clans müssen zuschlagen, und die Menschen werden für sie Teil einer Karte, auf der Freundschafts-, Verwandtschafts- und sogar Liebesbeziehungen eingezeichnet sind. Auf diesen Karten werden Botschaften verschickt, auch die schlimmsten. Man muß strafen. Wenn jemand straflos davonkommt, erwächst daraus die Gefahr des Verrats, die Möglichkeit neuer Spaltungen. Zuschlagen, und zwar so hart wie möglich. So lautet der Befehl. Alles übrige zählt nicht. Deshaib suchen die Getreuen der Di Lauro Gclsomina auf, treffen sie unter irgendeinem Vorwand. Sie sperren sie ein, schlagen sie blutig, quälen sie und wollen wissen, wo Gennaro ist. Sie antwortet nicht. Vielleicht weil sie gar nicht weiß, wo er ist, oder weil sie lieber erträgt, was sie sonst ihm angetan hätten. Und deshalb wird sie bestialisch ermordet. Die Camorristen, die diesen »Auftrag« erledigen sollten, waren vielleicht mit Kokain voügepumpt oder mußten besonders nüchtern sein, um auch die kleinste Einzelheit zu erfassen. Aber es ist kein Gehei mn is, mit welchen Methoden man den letzten Widerstand bricht und jeden Rest von Menschlichkeit auslöscht. Meiner Ansicht nach wurde die Leiche verbrannt, um die Spuren der Folterungen zu beseitigen. Der Körper eines mißhandelten Mädchens hätte eine dumpfe Wut ausgelöst. Auch wenn die Clans nicht auf die Zustimmung der Leute im Viertel angewiesen sind, können sie sich doch ihre Feindschaft auf keinen Fall leisten. Deshalb verbrennen, alles verbrennen. Die Beweise für Mord wiegen nicht schwer. Nicht schwerer als die jedes anderen Mordes in diesem Krieg. Doch sich die Umstände dieses Todes, die Einzelheiten dieser Qualen vorzustellen ist nicht auszuhalten. Nur dadurch, daß ich den Schleim aus der Brust durch die Nase hochzog und ausspuckte, gelang es mir, die Bilder in meinem Kopf zu stoppen.
    Gelsomina Verde. Mina hieß sie im Viertel. So nannten sie auch die Zeitungen, als sie sich schuldbewußt, weil zu spät, mit ihr zu beschäftigen begannen. Beinahe wäre sie nur eines der Opfer dieses gegenseitigen

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