Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Abschlachtens gewesen. Oder hätte, wenn sie am Leben geblieben wäre, als die Freundin eines Ca-morristen gegolten, als eine der vielen, die sich vom Geld blenden lassen oder sich dann wichtig vorkommen. Als eine weitere »Signora«, die den Reichtum ihres Ehemanns, der bei der Camorra ist, genießt. Doch der »Saracino«, wie Gennaro Notturno hieß, stand erst am Anfang. Danach erst wird man Capozona und kontrolliert die Dealer, so daß man auf tausend bis zweitausend Euro kommt. Bis dahin ist der Weg weit. Zweitausendfünfhundert Euro scheinen das Entgelt für einen Mord zu sein. Wenn der Killer dann seine Zelte abbrechen muß, weil die Polizei ihm auf den Fersen ist, zahlt ihm der Clan einen einmonatigen Aufenthalt in Norditalien oder im Ausland. Auch Gennaro träumte vielleicht davon, ein Boss zu werden, über halb Neapel zu herrschen und überall in Europa zu investieren.
Wenn ich innehalte und tief Luft hole, kann ich mir ohne weiteres die Begegnung vorstellen, auch wenn ich nicht einmal weiß, wie die Beteiligten aussahen. Sie haben sich sicher in der üblichen Bar kennengelernt, in diesen verdammten Bars der Vorstädte im Süden, um die wie ein Strudel die Existenz aller kreist, von den Jugendlichen bis zu den hustenden Neunzigjährigen. Oder vielleicht in einer Disco. Eine Runde auf der Piazza Plebiscito, ein Kuß vor dem Nachhausegehen. Dann die gemeinsam verbrachten Wochenenden, manchmal eine Pizza mit Freunden, das abgesperrte Zimmer am Sonntagnachmittag, wenn die anderen erschöpft vom Mittagessen eingeschlafen sind. Und so weiter. Wie es immer geschieht, wie es alle machen, zum Glück. Dann trat Gennaro ins System ein. Er hat wahrscheinlich irgendeinen Freund aufgesucht, der bei der Camorra ist, hat sich von ihm einführen lassen und dann angefangen, für Di Lauro zu arbeiten. Ich stelle mir vor, daß das Mädchen es vielleicht erfahren und versucht hat, ihm eine andere Arbeit zu verschaffen, denn in dieser Gegend setzen sich die jungen Frauen häufig für ihre Freunde ein. Aber am Ende hat sie vielleicht einfach vergessen, was Gennaro tat. Denn es ist schließlich eine Arbeit wie jede andere. Ein Auto fahren, irgendein Paket transportieren, man fängt mit kleinen Dingen an. Nichtigkeiten. Aber davon kann man leben, man arbeitet und bekommt auch manchmal das Gefühl, sich selbst zu verwirklichen, geschätzt zu sein und belohnt zu werden. Dann zerbrach die Beziehung.
Diese wenigen Monate aber waren genug. Genug, um Gelsomina mit Gennaro in Verbindung zu bringen. Ihr sein »Zeichen« aufzudrücken als ein Mensch, dem seine Gefühle gelten. Auch wenn sie kein Paar mehr sind, es vielleicht nie richtig waren. Unwichtig. Nur Vermutungen und Phantasien. Was bleibt, ist, daß ein Mädchen gefoltert und getötet wird, weil es einige Monate zuvor gesehen worden war, wie es irgendwo in Neapel mit einem Jungen Zärtlichkeiten und einen Kuß austauschte. Ich kann es nicht glauben. Gelsomina arbeitete viel, wie alle hier in dieser Gegend. Oft müssen die Mädchen, die Ehefrauen allein für den Unterhalt der Familie sorgen, weil sehr viele Männer jahrelang in Depressionen verfallen. Auch wer in Secondigliano, auch wer in der »Dritten Welt« lebt, hat eine Psyche. Jahrelang nicht zu arbeiten verändert den Menschen, von den Vorgesetzten immer nur als Abschaum behandelt zu werden, ohne Vertrag zu sein, ohne Respekt, ohne Geld bringt dich langsam um. Entweder wirst du zum Tier oder gerätst an den Abgrund. Gelsomina schuftete also wie alle, die mindestens drei Arbeitsstellen brauchen, um so viel Geld zusammenzukratzen, daß es für die halbe Familie reicht. Weil sie sich außerdem ehrenamtlich um alte Menschen ihres Viertels kümmerte, überboten sich die Zeitungen in Lobeshymnen und wetteiferten darum, sie zu rehabilitieren und ihre verkohlte Leiche in eine Symbolfigur zu verwandeln, über die man im Ton sentimentalen Mitleids berichten konnte.
Wenn Krieg herrscht, sind weder Liebesbeziehungen noch Bindungen, nicht einmal mehr Affären möglich, alles kann sich in ein Element der Schwäche verwandeln. Das emotionale Erdbeben, das die jungen Clanmitglieder ereilt, geht aus den Telefonmitschnitten der Carabinieri hervor, wie beispielsweise aus dem Gespräch zwischen Francesco Venosa und seiner Freundin Anna, das in dem Haftbefehl der Antimafia-Einheit Neapel vom Februar 2006 wiedergegeben ist. Bevor er sich nach Latium absetzt und seine Nummer ändert, warnt Francesco in einer SMS seinen Bruder Giovanni davor, das
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