Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Möglichkeiten, Bizzarro umzulegen, geht noch weiter. Man denkt daran, seinen Sohn zu Hause aufzusuchen und »niemanden zu verschonen«. Dann ein Telefonat: ein Killer ist fast verzweifelt, weil er erfahren hat, daß Bizzarro sein Versteck verlassen und sich auf der Piazza gezeigt hat, um seine Macht und seine Unversehrtheit zu demonstrieren. Der Killer schimpft über die versäumte Gelegenheit: »Zum Teufel, er geht uns durch die Lappen, der ist doch tatsächlich den ganzen Vormittag auf der Piazza gewesen ...«
Nichts bleibt verborgen. Alles scheint klar, offensichtlich, vollkommen alltäglich. Der ehemalige Bürgermeister von Melito läßt wissen, in welchem Hotel Bizzarro sich mit seiner Geliebten versteckt, wo er Spannung und Sperma abbaut. Alles kann man hinnehmen. Kein Licht machen, damit niemand erkennt, ob man zu Hause ist, mit vier Wagen unterwegs sein, nicht telefonieren und keine Telefonate empfangen, nicht zur Beerdigung der eigenen Mutter gehen. Aber es soweit kommen lassen, seine Geliebte nicht zu treffen, das wäre ein Hohn, das Ende jeder Macht.
Am 26. April 2004 befindet sich Bizzarro im dritten Stock des Hotels Villa Giulia mit seiner Geliebten im Bett. Das Kommando erscheint. Die Männer tragen Westen mit der Aufschrift »Polizei«. An der Rezeption lassen sie sich die Magnetkarte zum Öffnen der Tür geben, der Portier verlangt nicht einmal den Ausweis der angeblichen Polizisten. Sie klopfen an die Tür. Bizzarro ist noch in Unterhosen, aber sie hören, wie er zur Tür geht. Sie schießen. Pistolenschüsse zerfetzen die Tür, dringen durchs Holz und treffen Bizzarros Körper. Sie drücken die Tür vollends ein und strecken ihn mit Kopfschüssen nieder. Projektile und Holzsplitter sind ins Fleisch gedrungen. Das Massaker hat Form angenommen. Bizzarro ist der erste gewesen. Oder einer der ersten. Oder zumindest der erste, der die Macht des Clans Di Lauro zu spüren hekommen hat. Eine Macht, die sich auf jeden stürzt, der es wagt, das Bündnis aufzukündigen, die Basis des Geschäfts zu zerstören. Die Organisationsstruktur der Abtrünnigen ist noch nicht gefestigt, nicht ohne weiteres zu verstehen. Die Atmosphäre ist gespannt, aber man wartet anscheinend noch auf irgend etwas. Klarheit wird erst einige Monate nach der Ermordung Bizzarros geschaffen und der Konflikt mit einer Art Kriegserklärung eröffnet. Am 20. Oktober 2004 werden Fulvio Montanino und Claudio Salerno - nach den Ermittlungen engste Vertraute von Cosimo und für einige Drogenhandelsplätze verantwortlich - von vierzehn Kugeln durchsiebt. Nachdem die als Treffen getarnte Falle, hei dem Cosimo und sein Vater beseitigt werden sollten, nicht funktioniert hatte, markiert dieses Attentat den Beginn der Feindseligkeiten. Wenn es Tote gibt, kann man nichts anderes tun als den Kampf aufnehmen. Alle Capi haben sich dem Aufstand gegen die Di Lauro angeschlossen: Rosario Pariante und Raffaele Abbinante, außerdem die neuen Manager Raffale Amato, Gennaro McKay Marino, Arcangelo Abate, Giacomo Migliaccio. Zu Di Lauro halten die De Lucia, Giovanni Cortese, Enrico D’Avanzo und eine starke Gruppe aus dem Fußvolk. Eine ziemlich starke. Diesen jungen Leuten hat man den Aufstieg zur Macht versprochen, Beute, wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Einfluß im Clan. Die Leitung der Gruppe übernehmen die Söhne von Paolo Di Lauro. Cosimo, Marco und Ciro. Cosimo hat sehr wahrscheinlich vorhergesehen, daß er entweder umkommen oder ins Gefängnis wandern wird. Verhaftungen und wirtschaftliche Probleme stehen bevor. Aber es gibt keinen anderen Weg: entweder zusehen, wie man von einem Clan im eigenen Herrschaftsgebiet ausgeschaltet wird, oder versuchen, die Geschäfte zu retten oder wenigstens die eigene Haut. Die wirtschaftliche Macht zu verlieren bedeutet automatisch, auch das Leben zu verlieren.
Es herrscht Krieg. Niemand weiß, wie er geführt werden wird, aber alle wissen, daß er lang und schrecklich sein wird. Der schlimmste Krieg, den der Süden Italiens in den letzten zehn Jahren erlebt hat. Die Di Lauro haben weniger Leute, sind weniger stark, viel weniger gut organisiert. In der Vergangenheit hatten sie Spaltungsversuche stets gewaltsam unterdrückt. Spaltungen, die aus der liberalisierten Organisationsstruktur entstanden, die einige als einen Freibrief mißverstanden haben, sich ganz unabhängig zu machen und eigene Unternehmen aufzubauen. Eine solche Freiheit mag der Clan Di Lauro gewähren, einfach nehmen kann man sie sich nicht.
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