Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
abzuwischen. Die Carabinieri ließen sie gewähren. Die ballistischen Spuren, die Fingerabdrücke und sonstigen Beweisstücke waren gesichert. Der sinnlose Almanach der Spurensicherung war ausgefüllt. Die ganze Nacht über brachte die Frau das Geschäft wieder auf Hochglanz, als ob sie dadurch das Vorgefallene auslöschen könnte, als ob die wiederhergestellte Ordnung von Milchtüten und Müsliriegeln die Präsenz des Todes auf die wenigen Minuten des Attentats und nur auf diese begrenzen könnte.
Unterdessen verbreitete sich in Scampia das Gerücht, Cosimo Di Lauro habe hundertfünfzigtausend Euro für Informationen über den Aufenthaltsort von Gennaro Marino McKay ausgesetzt. Eine große, aber nicht allzu große Summe für ein Wirtschaftsimperium wie das des Systems von Secondigliano. Auch bei der Belohnung hatte man darauf geachtet, den Feind nicht aufzuwerten. Doch das Angebot führte zu nichts, die Polizei war zuerst da. In der Via Fratelli Cervi hatten sich alle führenden Abtrünnigen, die noch vor Ort waren, im dreizehnten Stockwerk eines Gebäudes versammelt. Das Stockwerk war sicherheitshalber schußsicher abgedichtet. Am Ende der Treppe grenzte ein eiserner, mit Schlössern gesicherter Käfig den Zugang ab. Gepanzerte Türen machten den Ort des Treffens uneinnehmbar. Die Polizei aber riegelte das ganze Gebäude ab. Die Panzerung gegen mögliche Angriffe ihrer Gegner verurteilte die Eingeschlossenen jetzt dazu, tatenlos abzuwarten, bis die Trennschleifer der Polizei die Gitter öffneten und Schüsse die gepanzerten Türen sprengten. Während sie ihre Verhaftung erwarteten, warfen sie einen Rucksack mit Maschinenpistolen, Pistolen und Handgranaten aus dem Fenster. Beim Aufprall löste sich eine Salve aus der Maschinenpistole. Ein Schuß streifte einen der Polizisten, die das Gebäude umstellt hatten, fast zärtlich über den Nacken. Nervös sprang er hoch. Schweißüberströmt und von Panik erfaßt, atmete er keuchend. Niemand rechnet damit, von der abgeprallten Kugel einer Maschinenpistole getroffen zu werden, die aus dem dreizehnten Stockwerk geflogen ist. Wie im Delirium redete der Polizist mit sich selbst, beschimpfte alle, stieß Namen aus und fuchtelte mit den Armen, als wollte er Schnaken von seinem Gesicht vertreiben, und rief dann: »Sie sind abgehauen. Weil sie’s nicht geschafft haben, sind sie einfach abgehauen und haben uns vorgeschickt ... Wir lassen uns von beiden Seiten einspannen, wir retten denen da das Leben. Lassen wir sie doch einfach, die sollen sich doch gegenseitig fertigmachen, alle sollen sie sich fertigmachen, was geht uns das an?«
Die Kollegen des Polizisten machten mir Zeichen, daß ich verschwinden solle. In dieser Nacht verhafteten sie in der Via Fratelli Cervi Arcangelo Abete und seine Schwester Anna, Massimiliano Cafasso, Ciro Mauriello, Gennaro Notturno, den Exfreund von Mina Verde, und Raffaele Notturno. Doch der eigentliche Schlag gelang der Polizei mit der Verhaftung von Gennaro McKay. Dem Anführer der Abtrünnigen. Vor allem auf die Marino hatten es die Gegner abgesehen. Ihr gesamter Besitz war in Brand gesetzt worden: das Restaurant Orchidea in der Via Diacono in Secondigliano, eine Bäckerei im Corso Secondigliano und eine Pizzetteria in der Via Pietro Nenni in Arzano. Auch die Villa von Gennaro McKay in der Via Limitone d’Arzano, eine Art russische Datscha ganz aus
Holz, war in Flammen aufgegangen. Zwischen den Betonklötzen, den aufgerissenen Straßen, den verstopften Gullis und den spärlichen Straßenlaternen der Case Celesti hatte McKay sich eine bizarre Idylle geschaffen und eine Villa aus wertvollem Holz bauen lassen, umgeben von libyschen Palmen, den teuersten. Angeblich soll er sich in diesen Baustil verliebt haben, als er bei einer Geschäftsreise nach Rußland auf eine Datscha eingeladen worden war. Und damals konnte nichts und niemand einen Gennaro Marino daran hindern, mitten in Secondigliano eine Datscha zu bauen, Symbol für den Erfolg seiner Geschäfte und mehr noch Versprechen an seine Gefolgsleute, daß sie sich, wenn sie sich richtig verhielten, früher oder später auch einen derartigen Luxus leisten konnten, selbst im Umland von Neapel, selbst in diesem trostlosesten Winkel der Mittelmeerwelt. Heute sind von der Datscha nur das Skelett aus Beton und verkohltes Holz übrig. Gennaros Bruder Gaetano wurde von den Carabinieri in dem Luxushotel La Certosa in Massa Lubrense aufgespürt. Um seine Haut zu retten, hatte er sich in einem Zimmer mit
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