Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
einem Vorwand bat ich ihn, mir den Player für einige Tage zu leihen. Er lachte, als wollte er mir verzeihen, daß ich ihn für so blöd hielt, für so hirnverbrannt, Sachen zu verleihen. Also kaufte ich das Gerät und gab dafür fünfzig Euro aus. Ich steckte mir sofort die Kopfhörer ins Ohr, denn ich wollte wissen, was die Hintergrundmusik zu den Massakern war. Ich erwartete Rap, Hard Rock oder Heavy Metal, aber statt dessen hörte ich nur neapolitanische Schnulzen und Pop. In Amerika schießt man, aufgeputscht vom Rap, in Secondigliano hatten sie Liebeslieder im Ohr, wenn sie zum Töten gingen.
Pikachu mischte die Karten und fragte mich, ob ich mitspielen wollte, aber Kartenspielen war noch nie meine Stärke. So stand ich vom Tisch auf. Die Kellner der Pizzeria waren genauso alt wie die Jungs des Systems, betrachteten sie voller Bewunderung und wagten nicht einmal, sie zu bedienen. Das übernahm der Besitzer persönlich. In dieser Gegend als Küchenjunge, als Kellner oder auf dem Bau zu arbeiten wird als Schande empfunden. Abgesehen von den immer gleichen Gründen: Schwarzarbeit, keine Bezahlung für Urlaub und Krankheit und in der Regel ein Zehnstundentag, gibt es hier keine Chance, vorwärtszukommen. Das System dagegen bietet wenigstens die Illusion, Leistung lohne sich, und es gebe Aufstiegsmöglichkeiten. Ein Camorrist genießt ein ganz anderes Ansehen als ein Küchenjunge, die Mädchen würden ihn nie als Loser verachten. Diese aufgeplusterten Kids, diese lächerlichen Kuriere, die aussahen wie amerikanische Footballspieler im Kleinformat, wollten nicht Al Capone werden, sondern Fla-vio Briatore, keine Revolverhelden, sondern Geschäftsleute, die sich mit Models sc hm ücken können: sie wollten erfolgreiche Unternehmer werden.
Am 19. Januar wird der fünfundvierzigjährige Pasquale Paladin: ermordet. Acht Schüsse. In die Brust und in den Kopf. Wenige Stunden später schießen sie dem neunzehnjährigen Antonio Auletta in die Beine. Doch am 21. Januar scheint ein Wendepunkt erreicht zu sein. Das Gerücht verbreitet sich in Windeseile auch ohne Nachrichtenagenturen. Cosimo Di Lauro ist verhaftet worden. Der Herrscher über die mafiose Struktur, laut Anklage der Antimana-Sondereinheit der Staatsanwaltschaft Neapel ist er der Auftraggeber des Massakers, laut der Aussagen der Kronzeugen ist er der Kopf des Clans. Cosimo versteckte sich in einem Loch von vierzig Quadratmetern und schlief auf einem durchgelegenen Bett. Der Erbe einer kriminellen Vereinigung, die allein im Drogenhandel täglich fünfhunderttausend Euro umsetzte, und wahrscheinlich Besitzer einer fünf Millionen Euro teuren Villa mitten in einem der trostlosesten Orte Italiens war gezwungen gewesen, sich in einem stinkenden, winzigen Loch unweit seiner mutmaßlichen Residenz zu verkriechen.
Eine Villa, die in der Via Cupa dell’Arco, nahe dem Fami-Kenwohnsitz der Di Lauro, urplötzlich entstand. Ein großzügiger Gutshof aus dem 18. Jahrhundert, im Stil einer pompeia-nischen Villa renoviert. Impluvium, Säulen, Stuck imd Gips, abgehängte Decken und Freitreppen. Eine Villa, deren Existenz niemand vermutete. Niemand kannte die offiziellen Eigentümer, die Carabinieri ermittelten, aber in der Umgebung hegte niemand auch nur den geringsten Zweifel. Sie war für Cosimo. Die Carabinieri entdeckten die Villa, die von hohen Mauern umgeben war, durch Zufall und wurden mißtrauisch, denn einige Arbeiter im Inneren ergriffen sofort die Flucht, als sie die Uniformen sahen. Der Krieg hatte verhindert, daß die Villa fertiggestellt, mit Möbeln und Bildern ausgestattet zur
Residenz des Herrschers werden konnte, zum goldenen Herzen im verrottenden Körper der Bauindustrie von Secondigliano.
Als Cosimo das Dröhnen der gepanzerten Fahrzeuge der Carabinieri hört, die kommen, um ihn zu verhaften, als er hört, wie sie ihre Gewehre in Anschlag bringen, macht er keinen Versuch zu fliehen und nimmt nicht einmal eine Waffe in die Hand. Er stellt sich vor den Spiegel, feuchtet den Kamm an und frisiert sich die Haare nach hinten, um sie zu einem Pferdeschwanz zusammenzufassen, der ihm lockig über den Nak-ken fällt. Er zieht einen dunklen Rollkragenpullover und einen schwarzen Regenmantel an. Cosimo Di Lauro verkleidet sich als kriminelle Knallcharge, als Krieger der Nacht und schreitet kerzengerade die Treppen herunter. Seit er vor einigen Jahren einen schweren Motorradunfall hatte und sich dabei das Bein schwer verletzte, hinkt er. Aber bei seinem Auftritt denkt
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