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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
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aussetzen, eine Arbeit zu suchen, von der man doch nicht leben kann, warum einen Halbtagsjob in einem Callcenter annehmen? Unternehmer werden! Aber richtig. Fähig, mit allem zu handeln und auch aus nichts ein Geschäft zu machen. Ernst Jünger würde sagen, Größe sei dem Unwetter ausgesetzt. Einen solchen Satz würden auch die Bosse, die Unternehmer der Camorra unterschreiben. Das Zentrum allen Handelns sein, das Zentrum der Macht. Alles als Mittel verwenden und sich selbst als Zweck. Wer behauptet, das sei unmoralisch, ein Leben ohne Ethik sei undenkbar, die Wirtschaft müsse sich an Grenzen und Regeln orientieren, der hat es einfach nicht geschafft, sich durchzusetzen, und ist vom Markt geschlagen worden. Die Ethik ist die Grenze des Verlierers, der Schutz des Unterlegenen, die moralische Rechtfertigung derjenigen, die nicht auf volles Risiko gespielt und alles gewonnen haben. Das Gesetz hat seine festen Regeln, nicht die Gerechtigkeit, die ist etwas anderes. Gerechtigkeit ist ein abstraktes Prinzip, das alle einbezieht und die Menschen freispricht oder verurteilt, je nach dem, wie man sie interpretiert: schuldig sind die Regierenden, schuldig die Päpste, die Heiligen und die Ketzer, schuldig Revolutionäre und Reaktionäre. Alle schuldig, verraten zu haben, getötet, gefehlt. Schuldig, gealtert und gestorben zu sein. Schuldig, besiegt und geschlagen worden zu sein. Allesamt schuldig gesprochen vom Jüngsten Gericht der überkommenen Moral und freigesprochen von dem der Notwendigkeit. Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit gewinnen ihre Bedeutung nur am konkreten Beispiel. Anhand von Sieg oder Niederlage, Handeln oder Erleiden. Wenn du beleidigt wirst, wenn dich jemand schlecht behandelt, dann begeht er ein Unrecht, wenn er dir dagegen eine Vorzugsbehandlung angedei-ben läßt, dann ist das nur gerecht. Wenn es um die Macht der Clans geht, muß man sich an diese Gewichtung halten. An diese Maßstäbe für Gerechtigkeit. Sie reichen aus. Sie müssen ausreichen. Nur in dieser realen Form läßt sich Gerechtigkeit abwägen. Alles übrige ist Glaube und Beichtstuhl. Der ökonomische Imperativ ist von dieser Logik geprägt. Nicht die Camorristen jagen den Geschäften nach, es sind die Geschäfte, die den Camorristen nachjagen. Die Logik des kri min ellen Unternehmertums, das Denken der Bosse ist identisch mit radikalstem Neoliberalismus. Er diktiert, ja erzwingt die Regeln des Geschäfts, des Profits, des Sieges über alle Konkurrenten. Alles übrige zählt nicht. Existiert nicht. Für die Macht, über Leben und Tod aller zu entscheiden, ein Produkt zu lancieren, ein Marktsegment zu monopolisieren oder in Sektoren der Zukunft zu investieren, riskiert man Haft oder das eigene Leben. Für zehn Jahre dieser Macht, für ein Jahr, für eine Stunde. Die Dauer spielt keine Rolle: leben, um wirklich zu herrschen, ist das einzige, was zählt. Sich auf dem Markt durchsetzen und mit offenen Augen in die Sonne schauen, wie es Raffaele Giuliano, der Boss von Forcella, tat, als Herausforderung, um zu zeigen, daß ihn nicht einmal das Sonnenlicht blenden konnte.
    Raffaele Giuliano, der Peperoncino auf die Messerklinge gestreut hatte, bevor er den Verwandten eines seiner Feinde erstach, um ihm brennende Schmerzen zu bereiten, als das Messer Zentimeter für Zentimeter ins Fleisch drang. Im Gefängnis war er nicht wegen dieser blutrünstigen Akribie gefürchtet, sondern weil er seinen Blick nicht einmal vor der direkten Berührung mit dem Sonnenlicht gesenkt hatte. Das Bewußtsein, als Businessman unweigerlich der Ermordung oder Verhaftung entgegenzugehen, paart sich mit dem unbeugsamen Willen, machtvolle, grenzenlose Wirtschaftsimperien zu beherrschen. Der Boss wird umgebracht oder verhaftet, aber das Ökonomische System, das er geschaffen hat, bleibt bestehen: es hört nie auf, sich zu verwandeln, zu vergrößern, zu verbessern und Profit zu machen. Dieses Bewußtsein eines Samurai des Neoliberalismus, der weiß, daß er, um Macht, die absolute Macht zu bekommen, einen Preis zahlen muß, findet sich zusammengefaßt in dem Brief, den ein Junge in einer Jugendhaftanstalt einem Priester anvertraute. Ich hörte den Wortlaut auf einer Tagung und erinnere mich noch genau daran.
    Alle, die ich kenne, sind tot oder im Gefängnis. Ich will ein Boss werden. Ich will Supermärkte, Geschäfte, Fabriken, ich will Frauen. Ich will drei Autos, ich will, daß man mich respektiert, wenn ich ein Geschäft betrete, ich will Kaufhäuser in der ganzen Welt

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