Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
er auch daran. Gestützt auf den Arm der Carabinieri, die ihn begleiten, kann er sein Gebrechen verbergen und ganz normal gehen. Die neuen militärischen Oberbefehlshaber der kriminellen Vereinigungen Neapels treten nicht wie Kleinkri min elle auf, sie haben nicht die weit aufgerissenen Augen und den verwirrten Gesichtsausdruck von Cutolo, meinen nicht, sich wie Luciano Liggio oder Al Capone oder als Karikaturen von Lucky Luciano und Al Capone verhalten zu müssen. Matrix, The Crow - die Krähe und Pulp Fiction machen besser deutlich, was sie wollen und wer sie sind. Mit diesen Vorbildern ist jedermann vertraut, und sie bedürfen keiner weiteren Erklärung. Sein Auftritt ist erhaben über zweideutige Anbiederung oder das beschränkte Repertoire aus dem Ganovenmilieu. Cosimo blickt in die Fernsehkameras und die Objektive der Fotografen, senkt das Kinn, streckt den Kopf vor. Er hat sich nicht wie der Mafiaboss Giovanni Brusca in abgewetzten Jeans und im mit Sauce bekleckerten Hemd überraschen lassen, nicht verängstigt wie Toto Riina, den man schnell in einen Hubschrauber verfrachtete, und nicht schlaftrunken wie Misso, der Boss des Sanitä-Viertels. Cosimo ist im Medienzeitalter groß geworden und weiß, daß er ins Rampenlicht tritt. Deshalb präsentiert er sich wie ein Krieger, der zum erste nm al aufgehalten wird. Als müßte er für seinen übergroßen Mut bezahlen, für seinen Übereifer im Kampf. Das ist auf seinem Gesicht zu lesen. Er scheint nicht ins Gefängnis zu wandern, sondern lediglich seine Kommandozentrale zu verlegen. Als er den Krieg begann, wußte er, daß er verhaftet werden würde. Aber er hatte keine Wahl. Entweder Krieg oder Tod. Deshalb will er die Verhaftung als Beweis für seinen Sieg verstanden wissen, als Symbol dafür, daß er seine Sicherheit hintanstellt, um das System der Familie zu retten.
Die Leute aus dem Viertel bekommen schon Magenschmerzen, wenn sie ihn nur sehen. Ein Aufstand bricht los, Autos werden umgestürzt, mit Benzin gefüllte Flaschen fliegen durch die Luft. Dieser hysterische Ausbruch soll nicht, wie es vielleicht scheinen mag, die Verhaftung verhindern, sondern Racheakte vereiteln. Keinerlei Verdacht aufkommen lassen. Cosimo beweisen, daß er nicht verraten worden ist, daß niemand etwas hat durchsickern lassen, daß keiner der Nachbarn die Geheimnisse seines Lebens im Untergrund entschlüsselt hat. Der Aufruhr ist ein riesiges Ritual, um die Schuld von sich zu weisen, eine metaphysische Sühnekapelle aus in Brand gesetzten Streifenwagen, zu Barrikaden zusammengeschobenen Müllcontainern und dem schwarzen Rauch brennender Autoreifen. Sollte Cosimo jemanden im Verdacht haben, dann bleibt ihm nicht einmal mehr Zeit, den Koffer zu packen, das Henkersbeil seiner Schergen wird unausweichlich auf sie niedergehen.
Wenige Tage nach der Verhaftung des Thronerben des Clans schmückt sein arroganter Gesichtsausdruck bei der Verhaftung das Display der Handys zahlreicher Mädchen und Jungen in den Schulen von Torre Annunziata, Quarto und Marano. Die Jugendlichen wollen damit nur provozieren, ihren pubertären Widerstandsgeist demonstrieren. Gewiß. Aber Cosimo wußte das. So muß man auftreten, um als Boss anerkannt zu werden und das Herz der Menschen zu erreichen. Man muß auch Fernsehen und Presse mit einbeziehen, sein Haar zum Pferdeschwanz binden. Cosimo repräsentiert ohne Zweifel den neuen Unternehmertypus des Systems. Das Image der neuen Bourgeoisie, die, von allen Fesseln befreit und einem unbeugsamen Willen getrieben, jeden Bereich des Marktes beherrschen und alles in der Hand haben will. Auf nichts verzichten. Eine Entscheidung zu treffen bedeutet keineswegs, den eigenen Aktionsradius einzuschränken und sich anderer Möglichkeiten zu berauben. Nicht für den, der das Leben als einen Raum versteht, in dem alles zu gewinnen ist, auch auf die Gefahr hin, alles zu verlieren. Die Möglichkeit, verhaftet zu werden, zu scheitern und zu sterben, ist Teil des Kalküls. Das bedeutet aber nicht, zu verzichten, sondern alles zu wollen, hier und jetzt, und es sich so schnell wie möglich zu verschaffen. Das ist die Macht und die Anziehungskraft, die Cosimo Di Lauro verkörpert.
Niemand entkommt der Tristesse des Rentnerdaseins, auch wenn er sich noch so um sein Wohlergehen kümmert, alle müssen früher oder später einsehen, daß ihnen Hörner aufgesetzt worden sind, und kaum jemand kann im Alter auf fremde Hilfe verzichten. Warum soll man sich also der deprimierenden Erfahrung
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