Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Videogame-Fußball gewonnen haben.
Das, was der Kronzeuge Pietro Esposito, genannt «Kojak«, erzählt hat, scheint dagegen keine Legende zu sein. Er war in eine Wohnung gekommen, in der Ugo De Lucia vor dem Fernseher auf dem Bett liegend die Nachrichten kommentierte:
»Wir haben schon wieder zwei Stücke fertig! Und die anderen eines im Terzo Mondo.«
Fernzusehen war die einfachste Art, sich in Echtzeit über den Stand des Krieges zu informieren, ohne kompromittierende Telefonate fuhren zu müssen. Insofern brachte das durch den Krieg hervorgerufene Interesse der Medien für Scampia einen strategisch-militärischen Vorteil. Mehr aber beeindruckte mich der Ausdruck »Stück«. So hieß neuerdings ein Mord. Auch Pikachu sagte, wenn es um die Toten des Krieges in Secondigliano ging, die Di Lauro oder die Abtrünnigen hätten soundso viele Stücke gemacht. »Fertige Stücke« erinnert an die Stückzahlen der Akkordarbeit, und die Tötung eines Menschen wird gleichgesetzt mit der industriellen Fertigung einer Sache, egal welcher. Ein Stück.
Ich ging mit Pikachu spazieren, und er erzählte mir dabei von den Jugendlichen des Cäans, der wahren Macht der Di Lauro. Auf meine Frage, wo sie sich trafen, versprach er mir, mich hinzubringen, er kannte alle und wollte sie mir zeigen. Sie trafen sich abends in einer Pizzeria. Bevor wir dorthin gingen, nahmen wir noch einen Freund von Pikachu mit, der seit langem zum System gehörte. Pikachu bewunderte ihn und beschrieb ihn als eine Art Boss, für die Jungen des Systems war er ein wichtiger Bezugspunkt, denn er hatte die Aufgabe, die Untergetauchten zu versorgen, und nach seiner Aussage kaufte er auch für die Familie Di Lauro ein. Er hieß Tonino Kit Kat, weil er tonnenweise Schokoriegel vertilgte. Kit Kat ge-rierte sich als kleiner Boss, aber ich zeigte mich skeptisch und stellte ihm Fragen. Statt einer Antwort rollte er seinen Pulli hoch. Sein Brustkorb war übersät von kreisrunden blauen Flecken. In der Mitte der violetten Ringe waren gelbe und grünliche Punkte von zerstörten Kapillargefäßen zu sehen.
»Was hast du denn da gemacht?«
»Die Weste ...«
»Weste?«
»Ja, die schußsichere Weste ...«
»Eine schußsichere Weste macht doch keine solchen Flek-ken?«
»Aber die Pflaumen kommen von den Treffern darauf...«
Die blauen Flecken, die Pflaumen, waren der Abdruck der Kugeln, die die Weste, einen Zentimeter bevor sie ins Fleisch eingeschlagen wären, aufgehalten hatte. Damit die Halbwüchsigen lernten, ihre Angst vor Waffen zu verlieren, gab man ihnen schußsichere Westen und schoß dann auf sie. Eine kugelsichere Weste allein genügt nicht, einen Menschen so weit zu bringen, daß er sich nicht vor einer Waffe in Sicherheit bringt. Eine Weste ist kein Impfstoff gegen die Angst. Die Buben erzählten mir, sie seien aufs Land gebracht worden, außerhalb von Secondigliano. Dort zogen sie unter ihrem T-Shirt die kugelsicheren Westen an, und dann wurde ein halbes Magazin darauf abgefeuert. »Wenn der Schlag kommt, haut’s dich um und dir bleibt die Luft weg, du machst den Mund auf und willst einatmen, aber es kommt nichts. Du schaffst es einfach nicht. Die Kugeln sind wie Fausthiebe in die Brust, du meinst, es zerreißt dich ... aber dann stehst du auf, das ist das Wichtigste. Nach dem Schlag stehst du wieder auf.« Kit Kat hatte mit anderen zusammen gelernt, sich den Kugeln entgegenzustellen, eine Anleitung zum Sterben oder genauer, zum Beinahe-Sterben.
Sobald sie in der Lage sind, dem Clan treu zu sein, werden sie rekrutiert, im Alter von zwölf bis siebzehn Jahren. Viele sind Söhne oder Brüder von Clanmitgliedern, andere kommen aus Familien, die nur ab und zu mit den Clans zu tun haben. Diese Jugendlichen bilden das neue Heer der Clans der neapolitanischen Camorra. Sie kommen aus der Altstadt, aus dem Sanitä-Viertel, aus Forcella, Secondigliano, San Gaetano, aus den Quartieri Spagnoli und aus Pallonetto, rekrutiert für abgestufte Zugehörigkeitsgrade in verschiedenen Clans. Es sind ganze Heerscharen. Für die Clans sind diese Jugendlichen in vieler Hinsicht vorteilhaft, denn sie erhalten weniger als die Hälfte des Lohns eines erwachsenen Mitglieds niedrigsten Ranges, in den seltensten Fällen müssen sie für ihre Eltern oder eine eigene Fa mili e sorgen, sie brauchen keine festen Arbeitszeiten, müssen nicht pünktlich bezahlt werden und sind vor allem bereit, sich ständig auf der Straße aufzuhalten. Unterschiedliche Aufgaben und Verantwortungen werden
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