Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
ihnen übertragen. Am Anfang dealen sie mit leichten Drogen, vor allem Haschisch, fast immer in den belebtesten Straßen. Später dann dealen sie mit Pillen und bekommen in der Regel ein Moped. Am Ende kommt das Kokain, das sie direkt in den Universitäten, vor Lokalen, Hotels und an den U-Bahnhöfen verkaufen. Die Kinderdealer spielen eine zentrale Rolle für die Flexibilität des Drogengeschäfts, denn sie fallen weniger auf, sie verkaufen das Rauschgift zwischen einem Fußballspiel und einem Wettrennen auf dem Moped und liefern es häufig dem Kunden direkt nach Hause. Der Clan zwingt die Jugendlichen meist nicht, morgens zu arbeiten, so daß sie weiter die Schule besuchen können, denn solange sie schulpflichtig sind, wären sie leichter zu identifizieren, wenn sie den Unterricht schwänzen. Oft tragen diese Kinderdealer nach wenigen Monaten bereits Waffen, um sich zu verteidigen, aber auch, um ihren Rang zu unterstreichen, denn eine solche Auszeichnung eröffnet Aufstiegschancen bis an die Spitze des Clans; den Umgang mit den automatischen oder halbautomatischen Waffen lernen sie an den Abfallplätzen rings um Neapel oder in den Tuffsteinhöhlen unter der Stadt.
Wenn sie sich als zuverlässig erwiesen und das Vertrauen eines örtlichen Capo gewonnen haben, können die Jugendlichen auch Aufgaben übernehmen, die über das Dealen hinausgehen, und werden zu »Schmierestehern«. Dann kontrollieren sie in einer bestimmten Straße, ob die Lastwagen bei den Supermärkten, Lebensmittel- und Delikatessengeschäften von den Firmen kommen, die der Clan bestimmt, und wenn der Lieferant nicht zu den »Auserwählten« gehört, machen sie Meldung. Auch auf Baustellen ist die Anwesenheit eines »Schmierestehers« wichtig. Die Firmen, die auf einer Baustelle tätig sind, vergeben Aufträge häufig an Subunternehmer im Umkreis der Camorra, manchmal aber auch an solche, die »nicht angeraten« sind. Um zu wissen, ob auf Baustellen »fremde« Firmen beschäftigt werden, brauchen die Clans ständig unauffällige Kontrolleure. Diese Aufgabe wird den Jugendlichen übertragen, die beobachten, überwachen, an den Capo berichten und von ihm Anweisungen erhalten, wie sie reagieren sollen, wenn eine Baustelle »nicht gespurt hat«. Diese Jugendlichen legen ein Verhalten an den Tag und übernehmen Aufgaben wie erwachsene Camorristen, beginnen ihre Karriere sehr früh, arbeiten sich schnell hoch, und ihr Aufstieg innerhalb der Camorra verändert die genetische Struktur der Clans radikal. Kinder sind Capi für ganze Gebiete, blutjunge Bosse verfolgen unvorhersehbar und unbarmherzig neue Strategien, deren Dynamiken für die Sicherheitskräfte und die Antimafia unverständlich bleiben. Seit der von Cosimo initi-erten Restrukturierung des Clans haben Fünfzehn-, Sechzehnjährige ganze Bereiche des Drogengeschäfts in der Hand und erteilen Vierzig-, Fünfzigjährigen Befehle, ohne auch nur einen einzigen Augenblick befangen zu sein oder sich nicht recht kompetent zu fühlen. Der junge Antonio Galeota Lanza wurde von einer Wanze der Carabinieri belauscht, als er bei laut aufgedrehter Stereoanlage erzählte, wie man als Pusher lebt.
»... Jeden Sonntagabend mache ich achthundert oder neunhundert Euro, auch wenn du als Pusher mit Crack, Kokain und fünfhundert Jahren Gefängnis zu tun hast ...«
Immer öfter versuchen die Jugendlichen des Systems das, was sie wollen, mit dem »Eisen« zu bekommen, wie sie die Pistole nennen, und der Wunsch nach einem Handy, einer Stereoanlage, einem Auto oder einem Moped endet schnell mit Mord. Im Neapel der Kindersoldaten kann man nicht selten an der Ladenkasse oder in Supermärkten Satze hören wie: »Ich gehöre zum System von Secondigliano« oder »Ich gehöre zum System der Quartieri«. Mit diesem Zauberspruch nehmen sich die Jugendlichen, was sie wollen, und der Ladenbesitzer oder der Angestellte wird es nicht wagen, Geld dafür zu verlangen.
Diese neue Organisationsstruktur wurde in Secondigliano militarisiert. Die Jugendlichen wurden zu Soldaten. Pikachu und Kit Kat brachten mich zu Nello, einem Pizzabäcker der Gegend, der damit betraut war, die Jugendlichen des Systems nach Beendigung ihrer Schicht zu beköstigen. Sobald ich das Lokal betrat, kam eine Gruppe herein. Sie sahen furchtbar unförmig aus mit ihren weiten Pullovern wegen der schußsicheren Westen darunter. Ihre Mopeds parkten sie auf dem Gehsteig und betraten dann grußlos die Pizzeria. Kindergesichter, denn sie waren, auch wenn bei einigen
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