Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
bereits ein Bartflaum sprießte, dreizehn bis höchstens sechzehn Jahre alt. Pikachu und Kit Kat wollten, daß ich mich zu ihnen setzte, was niemanden zu stören schien. Sie waren hungrig, vor allem aber durstig und tranken Wasser, Cola, Fanta. Ein unglaublicher Durst. Selbst mit der Pizza wollten sie ihren Durst löschen, ließen sich eine Flasche Öl bringen und gossen immer mehr Öl darüber, weil sie angeblich zu trocken war. Ihre Münder waren vollkommen ausgetrocknet, von der Spucke bis zu den Worten. Ich merkte sofort, daß sie von der Nachtwache kamen und Pillen genommen hatten. Die Camorra gab ihnen MDMA, also das klassische Ecstasy. Damit sie nicht einschliefen und nicht ihren Posten verließen, um täglich zwei Mahlzeiten einzunehmen. Das damals als Methylsafrylamin bezeichnete MDMA wurde übrigens zuerst von der Firma Merck in Deutschland patentiert und den Soldaten in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs verabreicht, denjenigen, die man als Menschenmaterial bezeichnete, Material also, das auf diese Weise Hunger, Kälte und Todesangst überwinden sollte. Dann wurde es von den Amerikanern zu Spionagezwecken verwendet. Nun bekamen auch diese kleinen Soldaten ihr Quantum künstlichen Mut und synthetische Widerstandskraft verabreicht. Sie lutschten an ihren Pizzastücken. An dem Tisch waren ähnliche Geräusche zu hören, wie wenn alte Männer ihre Suppe vom Löffel schlürfen. Sobald sie wieder redeten, bestellten sie weiter Wasser. Und da tat ich etwas, womit ich auf eine gewaltsame Reaktion hätte stoßen können, aber ich spürte, daß ich es tun konnte, ich spürte, daß ich kleine Jungs vor mir hatte. Gepanzert mit Bleiwesten, aber doch immer noch kleine Jungs. Ich stellte einen Recorder auf den Tisch, versuchte jedem einzelnen in die Augen zu sehen und forderte sie mit lauter Stimme auf: »Los, sprecht da rein, sagt, was ihr wollt ...«
Keinem kam es merkwürdig vor, keinem kam es in den Sinn, ich könnte ein Bulle oder ein Journalist sein. Einige brüllten zunächst Schimpfwörter ins Mikrophon, dann begann einer der Jungen auf meine Fragen hin von seiner Karriere zu erzählen. Und es sah so aus, als hätte er nur auf die Gelegenheit gewartet.
»Zuerst habe ich in einer Bar gearbeitet, ich bekam zweihundert Euro im Monat, mit Trinkgeld kam ich auf zweihundertfünfzig, und die Arbeit gefiel mir nicht. Ich wollte mit meinem Bruder in der Autowerkstatt arbeiten, aber sie haben mich nicht genommen. Im System kriege ich dreihundert Euro die Woche, aber wenn ich gut verkaufe, gibt’s noch Prozente auf jeden Ziegel (den Barren Haschisch), und so komme ich auf dreihundertfünfzig bis vierhundert Euro. Ich muß schon schuften, aber am Schluß schieben sie immer ein bißchen mehr rüber.«
Nach einer Salve von Rülpsern, die zwei Jungen unbedingt aufgenommen haben wollten, fuhr Satore - eine Mischung aus Sasä und Totore - fort: »Früher war ich immer auf der Straße, ich war genervt, weil ich kein Moped hatte, immer alles zu Fuß oder mit dem Bus machen mußte. Die Arbeit gefällt mir, alle respektieren mich, und ich kann machen, was ich will. Dann aber haben sie mir das Eisen gegeben, und ich muß immer hier sein. Terzo Mondo, Case dei Puffi. Immer nur hier drinnen, hin und her. Und das mag ich nicht.«
Satore lächelte mich an und brüllte dann in den Recorder: »Laßt mich hier raus! .., Sagt es dem Boss!«
Sie hatten ihm die Waffe gegeben und ein eng begrenztes Gebiet, das er bewachen sollte. Kit Kat ergriff dann das Wort und preßte seine Lippen so nah ans Mikrophon, daß auch sein Atem aufgenommen wurde.
»Ich will eine Firma aufmachen zur Renovierung der Häuser oder einen Großhandel oder ein Geschäft, das System muß mir Geld geben für den Anfang, um den Rest kümmere ich mich selbst, auch darum, wen ich heirate. Ich will keine von hier, sondern ein Model, eine Schwarze oder eine Deutsche.«
Pikachu holte Karten aus der Tasche, vier von ihnen begannen zu spielen. Die anderen standen auf, reckten und streckten sich, aber niemand zog die Weste aus. Ich fragte Pikachu weiter nach den Trupps, aber ich wurde ihm mit meiner Hartnäckigkeit a llm ählich lästig. Er erzählte mir, vor einigen Tagen sei er in der Wohnung eines Trupps gewesen, die sie aufgegeben hatten, nur noch ein MP3-Player war übriggeblieben, mit dem sie Musik hörten, wenn sie auf der Jagd nach Teilen waren. Was die Männer, die zum Töten gingen, an Musik hörten, hing in Form von MP3-Dateien um Pikachus Hals. Unter
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