Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
haben. Und dann will ich sterben. Aber wie ein echter Mann, einer der wirklich das Sagen hat. Ich will umgebracht werden.
Das ist die neue, von den kriminellen Unternehmern geprägte Zeit. Das ist die neue Macht der Wirtschaft. Herrschen, koste es, was es wolle. Die Macht an erster Stelle. Der wirtschaftliche Erfolg, der mehr wert ist als das Leben. Mehr wert als das Leben aller und sogar das eigene.
Die Jugendlichen des Systems nannten sie sogar schon »sprechende Tote«. In einem Telefongespräch, das in einem
Haftbefehl der Antimafia-Staatsanwalt vom Februar 2006 wiedergegeben ist, erklärt ein Junge, wer die Capi von Secondigliano sind.
»Das sind doch bloß kleine Bengel, sprechende Tote, lebende Tote, Tote, die sich bewegen ... Ruck zuck packen sie zu und töten dich, aber das Leben ist sowieso schon vertan ...«
Kinder-Capi, Kamikaze der Clans, die ihr Leben nicht für einen Glauben aufs Spiel setzen, sondern für Geld und Macht, um jeden Preis, als die einzige Form des Lebens, die der Mühe wert ist.
In der Nacht des 21. Januar, in der Cosimo Di Lauro verhaftet wurde, fand man die Leiche von Giulio Ruggiero. Man fand ein ausgebranntes Auto, eine Leiche hinter dem Lenkrad. Ein Körper ohne Kopf. Der lag auf der Rückbank. Sie hatten ihn geköpft. Nicht mit einem glatten Axthieb, sondern mit der Flex: mit dem Trenn Schleifer, den man zum Glätten oder Trennen von Schweißnähten verwendet. Das schlimmste Mordinstrument, aber gerade deshalb besonders auffällig. Zuerst wird das Fleisch zerschnitten, dann werden die Knochen durchgesägt. Die Mörder mußten dieses Werk vor Ort vollbracht haben, denn auf dem Boden lagen Fleischfetzen herum, als wären es Kutteln. Bevor die Ermittlungen überhaupt begonnen hatten, war man in der Gegend der Meinung, dieser Mord sei eine Botschaft. Ein Symbol. Die Verhaftung von Cosimo Di Lauro war nur möglich, wenn jemand der Polizei einen Hinweis gegeben hatte. Dieser zerstückelte Körper wurde in der kollektiven Phantasie als der Verräter angesehen. Nur wer einen Boss verpfiffen hat, kann auf diese Weise zerfleischt werden. Das Urteil war gesprochen worden, bevor die Polizei Beweise hatte. Egal, ob wahr oder bloße Vermutung. Das Auto und den Kopf, die in der Via Hugo Pratt gefunden worden waren, schaute ich mir an, ohne von der Vespa abzusteigen. In meinem Gehirn formten sich Bilder, wie sie den Körper verbrannt und den Kopf abgesägt, wie sie den Mund mit Benzin gefüllt und einen Lappen zwischen die Zähne gestopft hatten, um ihn anzuzünden und dann zu warten, bis das ganze Gesicht explodierte. Ich setzte meinen Roller in Gang und fuhr los.
Als ich am 24. Januar 2005 dort ankomme, liegt er tot auf dem Steinfußboden. Eine kleine Gruppe von Carabinieri patrouilliert nervös vor dem Geschäft auf und ab, in dem das Attentat stattgefunden hatte. Das x-te. »Ein Toter pro Tag ist zum Rhythmus Neapels geworden«, sagt ein aufgeregter Jugendlicher im Vorbeigehen. Er bleibt stehen, zieht die Mütze vor dem Toten, den er nicht sieht, und geht weiter. Als die Killer das Geschäft betraten, hatten sie bereits die Pistolen gezogen. Es war klar, daß sie keinen Raubüberfall begehen wollten, sondern töten, strafen. Attilio hatte versucht, sich hinter dem Ladentisch zu verstecken. Er wußte, es würde nichts nützen, aber er hoffte vielleicht doch, er könnte zeigen, daß er unbewaffnet war, nichts damit zu tun und nichts getan hatte. Vielleicht hatte er die beiden als Soldaten der Camorra erkannt. Sie feuerten ihr ganzes Magazin auf ihn ab und verließen, nachdem der »Auftrag« erledigt war, das Geschäft, ganz ruhig, wie einige sagen, als hätten sie ein Handy gekauft und nicht einen Menschen umgebracht. Attilio Romano liegt da. Überall Blut. Es sieht fast so aus, als ob seine Seele durch die vielen Einschußlöcher auf seinem Körper herausgeflossen sei. Wenn du so viel Blut am Boden siehst, beginnst du, dich abzutasten, zu kontrollieren, ob nicht auch du verletzt bist, ob dieses Blut nicht auch dein Blut ist, dich überfällt eine psychotische Angst, du willst sicher sein, daß du nicht ebenfalls verletzt, nicht ebenfalls, ohne daß du es gemerkt hast, getroffen worden bist. Jedenfalls kannst du nicht glauben, daß in einem einzelnen Mensch so viel Blut sein kann, und bist sicher, daß deines weniger geworden ist. Auch wenn du ganz sicher bist, kein Blut verloren zu haben, reicht das nicht: du fühlst dich ausgeleert, auch wenn die Blutlache nicht von dir stammt. Du
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