Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
selbst bist die Blutlache, du fühlst, wie deine Beine nachgeben, die Zunge pelzig wird, die Arme lösen sich in der zähen Flüssigkeit auf, du wünschst dir, daß dir jemand den Augenhintergrund kontrolliert, um festzustellen, wie weit es schon mit deiner Anämie ist. Du würdest gern einen von den Sanitätern anhalten und ihn bitten, dir eine Bluttransfusion zu verabreichen, oder am liebsten hättest du einen weniger verkrampften Magen, um ein Steak essen zu können, falls du nicht kotzen mußt. Du mußt die Augen schließen und den Atem anhalten. Der Geruch von geronnenem Blut, der schon in den Putz der Wände eingedrungen ist, erinnert an rostiges Eisen. Du mußt rausgehen, ins Freie, Luft schnappen, bevor Sägemehl über das Blut gestreut wird, denn dieser Brei riecht grauenhaft, und dann kannst du den Brechreiz nicht mehr unterdrücken.
Ich begreife nicht recht, warum ich erneut den Ort eines Attentats aufgesucht habe. Eines weiß ich sicher: es hat keinen Sinn, das, was zu Ende ist, festzuhalten und das schreckliche Drama, das sich abgespielt hat, zu rekonstruieren. Es ist nutzlos, die Kreideringe um die Patronen zu betrachten, die aussehen wie ein Kegelspiel für Kinder. Man muß vielmehr ergründen, ob noch etwas übrig ist. Dem bin ich vielleicht auf der Spur. Ich will wissen, ob noch etwas Menschliches vorhanden ist; ob es einen Pfad gibt, einen Spalt, den der Wurm der Existenz gegraben hat, durch den eine Lösung gefunden werden kann, eine Antwort, die verrät, was hier wirklich vorgeht.
Attilios Leiche liegt noch auf dem Boden, als seine Angehörigen kommen. Zwei Frauen, vielleicht seine Mutter und seine Frau, ich weiß es nicht. Sie stützen einander auf dem Weg, gehen eng umschlungen, Schulter an Schulter gelehnt, die einzigen, die noch hoffen, daß das, was sie genau verstanden haben und wissen, nicht wahr sei. Doch sie sind verbunden, halten einander aufrecht, bevor sie am Ort der Tragödie eintreffen. In diesem Augenblick, in den Schritten dieser Frauen und Mütter zur Begegnung mit dem von Kugeln durchsiebten Körper, erahnt man ein irrationales, verrücktes, wirres Vertrauen in die Kraft des Wünschens. Sie hoffen, hoffen, hoffen und hoffen immer noch, daß ein Fehler vorliegt, daß die Gerüchte falsch sind und die Carabinieri, die das Attentat und den Tod gemeldet haben, einem Mißverständnis erlegen sind. Ein hartnäckiger Glaube daran, daß irgend etwas den Gang der Dinge ändern könnte. In diesem Moment erreicht die Hoffnung ihren Gipfel, darunter liegt der Abgrund. Aber es ist nichts zu machen. Schreie und Tränen beweisen die Schwerkraft der Realität. Attilio liegt hier auf dem Boden. Er hat in einem Handygeschäft gearbeitet und, um über die Runden zu kommen, in einem Callcenter. Seine Frau Natalia und er hatten noch kein Kind. Es war keine Zeit, vielleicht fehlten die finanziellen Mittel oder vielleicht wollten sie warten, um ihr Kind anderswo aufwachsen zu lassen. Ihr Leben war Arbeit, und als sich die Möglichkeit bot und genügend Geld gespart war, ergriff Attilio die Chance, Teilhaber des Geschäfts zu werden, in dem er den Tod fand. Sein Partner war jedoch entfernt mit Pariante verwandt, dem Boss von Bacoli, einem der Statthalter der Di Lauro, der die Seite gewechselt hatte. Attilio weiß davon nichts oder unterschätzt es zumindest, er vertraut seinem Partner, von dem er weiß, daß er von seiner Arbeit lebt, viel schuftet, zu viel. In dieser Gegend entscheidet man nicht über Lebensentwürfe, Arbeit zu haben erscheint als Privileg, das man, einmal erreicht, festhält, als hätte man einen Glückstreffer gemacht und sei vom Schicksal begünstigt, auch wenn das bedeutet, dreizehn Stunden täglich außer Haus zu sein, nur den halben Sonntag freizuhaben und nur tausend Euro im Monat zu verdienen, die kaum zum Abzahlen der Hypothek reichen. Doch man hat wenigstens Arbeit, dafür muß man schon dankbar sein und darf sich selbst und dem Schicksal nicht zu viele Fragen stellen.
Aber irgend jemand äußert einen Verdacht. Und möglicherweise wird die Leiche von Attilio Romano zu denen der in diesen Monaten ermordeten Soldaten der Camorra gerechnet werden. Die Leichen sehen alle gleich aus, aber die Gründe für ihren Tod sind unterschiedlich, auch wenn sie an derselben Front fallen. Die Clans entscheiden darüber, wer du bist, welche Rolle dir im Risikospiel des Konflikts zufällt. Du kannst darüber nicht entscheiden. Wenn die Heere aufmarschieren, läßt sich ihre Strategie von
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