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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
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zweihundertachtundzwanzig, 1990 zweihundertzweiundzwanzig, 1991 zweihundertdreiundz wan-zig, 1992 hundertsechzig, 1993 hundertzwanzig, 1994 hundertfünfzehn, 1995 hundertachtundvierzig, 1996 hundertsiebenundvierzig, 1997 hundertdreißig, 1998 hundertzweiunddreißig, 1999 einundneunzig, 2000 hundertachtzehn, 2001 achtzig, 2002 dreiundsechzig, 2003 dreiundachtzig, 2004 hundertzweiundvierzig, 2005 neunzig.
    Dreitausendsechshundert Tote, seit ich geboren bin. Die Camorra hat mehr Menschen umgebracht als die sizilianische Mafia, mehr als die ‘Ndrangheta, mehr als die russische Mafia, mehr als die albanischen Familien, mehr als die ETA in Spanien und die IRA in Irland, mehr als die Roten Brigaden, mehr als die Rechtsterroristen der NAR und mehr als alle Attentate in Italien, bei denen die Geheimdienste ihre Hand im Spiel hatten. Die Camorra hat mehr Menschen umgebracht als alle anderen. Mir kommt ein Bild in den Sinn. Die Weltkarte, die man oft in den Zeitungen sieht. In Le Monde Diplomatique ist oft diese Karte zu sehen, wo alle Weltgegenden, in denen ein Konflikt herrscht, mit einem Flämmchen gekennzeichnet sind. Kurdistan, Sudan, Kosovo, Osttimor. Man sollte auch einen Blick auf den Süden Italiens werfen. Da müßten die Leichen auftauchen, die sich in den Kriegen der Camorra, der Mafia, der ‘Ndrangheta, der Sacristi in Apulien oder der Basilischi in Lukanien summieren. Dafür steht jedoch kein Flämmchen, da ist es nicht heiß. Da sind wir im Herzen Europas. Da, wo der größte Teil der Wirtschaftsleistung des Landes entsteht. Wie er entsteht, spielt keine Rolle. Hauptsache, das Schlachtvieh bleibt an der Peripherie, eingepfercht in Silos aus Zement und Berge von Müll, in illegale Fabriken und Drogendepots. Hauptsache, niemand spricht darüber, und alles wird als Bandenkrieg, als ein Krieg unter Lumpengesindel abgetan. Jetzt begreifst du auch das schiefe Lächeln deiner Freunde, die emigriert sind und, wenn sie aus Mailand oder Padua zurückkommen, nicht wissen, was aus dir geworden ist. Sie taxieren dich von Kopf bis Fuß, um dein spezifisches Gewicht abzuwägen, ob du ein chiachiello oder ein bbuono bist. Ein Versager oder ein Camorrist. Am Scheideweg ist schon klar, welchen Weg du einschlägst, und am Ende des Wegs erwartet dich nichts Gutes.
    Ich ging nach Hause, kam aber nicht zur Ruhe. So ging ich wieder runter und begann zu laufen, schnell, immer schneller, die Knie schlackerten, die Fersen schlugen hoch, die Arme schienen ausgerenkt und bewegten sich wie die einer Marionette. Laufen, laufen, laufen. Mein Herz schlug, mein Mund füllte sich über Zunge und Zähne mit Spucke. Ich spürte das Blut in der Halsschlagader, in der Brust, ich kam außer Puste, sog durch die Nase so viel Luft ein wie möglich und stieß sie wieder aus wie ein Stier. Ich rannte weiter, fühlte, wie meine Hände eisig wurden, das Gesicht brennend heiß, und schloß die Augen. All das Blut, das ich am Boden gesehen hatte, als wäre es aus einem ausgeleierten Hahn geflossen, schien ich in mich aufgenommen zu haben, ich spürte es in meinem Körper.
    Schließlich kam ich ans Meer. Ich sprang auf die Felsen, die Nacht war dunstig, nicht einmal die Lichter der Schiffe im Golf waren zu erkennen. Das Meer wurde unruhig, es erhoben sich hier und da Wellen, sie schienen den Schmutz am Ufer nicht berühren zu wollen, kehrten aber auch nicht in das ferne Rollen der hohen See zurück, sondern verharrten wie unbeweglich im Auf und Ab des Wassers, als wollten sie sich mit ihren Schaumkronen in einem unmöglichen Gleichgewichtszustand halten. Weder vor noch zurück, ohne zu wissen, wo das Meer noch Meer ist.
    Einige Wochen später tauchten die Journalisten auf. Von überall her, plötzlich war die Camorra wieder lebendig in einer Gegend, von der man geglaubt hatte, es gebe nur noch Banden und Taschendiebe. Secondigliano stand innerhalb weniger Stunden im Mittelpunkt des Interesses. Sonderkorrespondenten, Fotoreporter der wichtigsten Agenturen, sogar ein Team der BBC war dauerhaft vor Ort, Jugendliche ließen sich neben einem Kameramann fotografieren, auf dessen Apparat deutlich das Logo von CNN zu erkennen war. »Die gleichen, die bei Saddam sind«, sagten die Leute von Scampia lachend. Von den Fernsehkameras aufgenommen, fühlten sie sich ins Zentrum des Weltgeschehens katapultiert. Dieses Interesse scheint der Gegend zum erste nm al eine wirkliche Existenz zuzugestehen. Das Massaker von Secondigliano zieht die Aufmerksamkeit auf sich, die man

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