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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
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außen nicht erkennen, sie sind es, die die Richtung, die Motive und die Gründe festlegen. In jenem Augenblick war der Laden, in dem Attilio arbeitete, Ausdruck der Geschäfte, deren sich die Spanier bemächtigt hatten, und die mußten verschwinden.
    Natalia, Nata, wie Attilio sie nannte, ist von der Tragödie niedergeschmettert. Sie hatte erst vier Monate zuvor geheiratet, aber ihr wird kein Trost zuteil, beim Begräbnis ihres Mannes erscheint nicht der Staatspräsident, kein Minister und nicht einmal der Bürgermeister, um ihr die Hand zu schütteln. Vielleicht besser so, es erspart die institutionelle Inszenierung. Doch über Attilios Tod schwebt ein ungerechtfertigter Verdacht. Und dieser Verdacht bedeutet stillschweigende Billigung der Ordnung der Camorra, bedeutet, daß man dem Handeln der Clans zustimmt. Doch die Kollegen des Callcenters organisieren Mahnwachen für Attila, wie sie ihn wegen seiner heftigen Lebenslust nannten, und gehen hartnäckig auf die Straße, auch wenn es dabei zu weiteren Anschlägen kommt, auch wenn wieder Blut fließt. Sie machen weiter, zünden Kerzen an, erklären, widerlegen alle Vorwürfe, räumen jeden Verdacht aus. Attila ist an seinem Arbeitsplatz umgebracht worden und hatte überhaupt nichts mit der Camorra zu tun.
    In Wirklichkeit lastet nach jedem Attentat ein Verdacht auf allen. Das Räderwerk der Clans ist zu perfekt. Es gibt keinen Fehler. Nur Strafe. Deshalb schenkt man den Clans Glauben, nicht den Verwandten, die nichts begreifen, nicht den Arbeitskollegen, die den Menschen kannten, nicht seiner Biographie. In den Strudel dieses Krieges gerät der einzelne ohne eigene Schuld und wird als Kollateralschaden oder möglicher Schuldiger abgehakt.
    Der sechsundzwanzigjährige Dario Scherillo wurde am 26. Dezember 2004 auf seinem Motorrad ins Gesicht und in die Brust geschossen, die Mörder ließen ihn liegen, so daß das ganze Hemd blutdurchtränkt war. Seine einzige Schuld bestand darin, aus Casavatore zu stammen, einem der Orte, in denen der Konflikt wütet. Auch bei ihm Stillschweigen, Un-
    Verständnis. Keine Grabinschrift, keine Tafel, keine Erinnerung. »Wenn jemand von der Camorra umgebracht wird, weiß man nie«, sagt ein alter Mann zu mir, während er sich bekreuzigt, an der Stelle, wo Dario gestorben ist. Das Blut auf dem Boden ist tiefrot. Blut hat nicht immer die gleiche Farbe. Das von Dario ist purpurrot, scheint noch zu fließen. Das Sägemehl saugt es nur langsam auf. Nach einer Weile nutzt ein Fahrer die freie Stelle und parkt sein Auto über dem Blutfleck. Und alles ist vorbei. Alles wird zugedeckt. Dario ist getötet worden, um die Menschen hier zu warnen, eine Warnung aus Fleisch und Blut. Wie in Bosnien, in Algerien, in Somalia, in all den wirren Bürgerkriegen, bei denen man nicht recht begreift, auf welcher Seite einer steht, und wo es genügt, den Nachbarn umzubringen, den Hund, den Freund oder einen Verwandten. Ein Gerücht, man sei mit jemandem verwandt, eine Ähnlichkeit reicht aus, damit man zur Zielscheibe wird. Eine Straße zu überqueren kann Grund genug für eine Kugel sein. Der Schmerz, die Tragödie, der Schrecken müssen aufs äußerste konzentriert werden. Es geht darum, absolute Macht zu demonstrieren, unangefochtene Hegemonie und die Unmöglichkeit, sich der eigentlichen, der realen und alles beherrschenden Macht zu widersetzen. Bis man sich daran gewöhnt, zu denken wie die, die eine Geste oder ein Wort übelnehmen könnten. Aufpassen, vorsichtig sein, schweigen, um das eigene Leben zu retten, um die Hochspannungsleitung der Rache nicht zu berühren. Während ich mich entferne, während die Leiche von Attilio Romano weggebracht wird, begreife ich allmählich. Ich begreife, warum meine Mutter mich immer so besorgt anschaut und nicht versteht, warum ich nicht fortgehe, nicht fliehe, sondern weiter in dieser Höllengegend lebe. Ich will mich erinnern, wie viele Tote, Ermordete und Verletzte es gegeben hat, seit ich auf der Welt bin.
    Eigentlich braucht man die Toten nicht zu zählen, um die Geschäfte der Camorra zu verstehen, eigentlich sagen sie am wenigstens aus über ihre reale Macht, doch sie sind die sichtbarste Spur und lösen die unmittelbarsten Reaktionen aus. Ich mache die Rechnung auf: 1979 hundert Tote, 1980 hundertvierzig, 1981 hundertzehn, 1982 zweihundertvierundsechzig, 1983 zweihundertvier, 1984 hundertfünfundfünfzig, 1986 hundertsieben, 1987 hundertsiebenundzwanzig, 1988 hundertachtundsechzig, 1989

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