Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
der Entwicklung der Camorra seit zwanzig Jahren hätte widmen müssen. In dem Krieg im Norden Neapels gibt es in kurzen Abständen Tote, genau passend für die Anforderungen der Reporter, in nicht mehr als einem Monat sind es dann schon Dutzende von Opfern. Als wäre es Absicht, damit jeder Korrespondent seinen Toten abkriegt. Ein Erfolg für alle. Man hat Scharen von Praktikantinnen hergeschickt, damit sie das Metier lernen. Überall werden Kleindealern Mikrophone vor die Nase gehalten, Kameras nehmen die trostlosen, kantigen Umrisse der »Vele« auf. Einigen der jungen Frauen gelingt es sogar, angebliche Pusher zu befragen, die man nur von hinten sieht. Fast überall kommen die Heroinsüchtigen zu Wort und leiern ihre Geschichte herunter. Zwei junge Journalistinnen lassen sich vor einem ausgebrannten Auto aufnehmen, bevor es weggeschafft wird. Vom ersten kleinen Krieg, den sie als Reporter mitbekommen, müssen sie ein Souvenir haben. Ein französischer Journalist rief mich an, um zu fragen, ob er eine kugelsichere Weste brauche, da er die Villa von Cosimo Di Lauro fotografieren wolle. Die Teams fahren mit dem Auto herum und filmen, als wären sie Forscher in einem Urwald, in dem alles zur Dekoration wird. Andere Presseleute haben Leibwächter dabei. Der schlechteste Weg, um über Secondigliano zu berichten, ist, sich von der Polizei begleiten zu lassen. Scampia ist für jedermann offen zugänglich, darin liegt gerade die Stärke dieses Drogenumschlagplatzes. Die Berichterstatter, die mit der Polizei kommen, erfahren nur das, was sie auch jeder Agenturmeldung entnehmen könnten. Nicht anders, als wenn sie vor ihrem PC in der Redaktion säßen, der Unterschied liegt nur darin, daß sie sich vom Schreibtisch entfernen.
Mehr als hundert Presseleute in kaum zwei Wochen. Plötzlich existiert der größte Rauschgiftmarkt Europas wirklich. Selbst die Polizisten werden mit Anfragen bestürmt, alle wollen an Polizeiaktionen teilnehmen, zusehen, wie ein Dealer verhaftet oder eine Wohnung durchsucht wird. Alle wollen in ihrem fünfzehnminütigen Bericht einige Bilder bringen, in denen Handschellen angelegt und Maschinenpistolen beschlagnahmt werden. Einige Polizeibeamte entledigen sich der Reporter und neuernannten investigativen Journalisten dadurch, daß sie sie Polizisten in Zivil fotografieren lassen, die so tun, als seien sie Pusher. Damit geben sie ihnen, was sie erwartet haben, ohne Zeit zu verlieren. Das Schlechtestmögliche in der kürzestmöglichen Zeit. Das Schlechteste vom Schlechten, den Horror des Horrors, die Tragödie rüberbringen, das Blut, die Eingeweide, die Schüsse, die eingeschlagenen Köpfe, das verbrannte Fleisch. Das Schlimmste, von dem sie berichten, ist nur die Spitze des Eisbergs. Viele Korrespondenten glauben, hier das Ghetto Europas, das absolute Elend vor sich zu haben. Wenn sie nicht gleich wieder davonrennen würden, müßten sie sich darüber klarwerden, daß hier die Stützpfeiler der Wirtschaft, die verborgenen Goldminen und die dunklen Abgründe sind, aus denen das pulsierende Herz der Ökonomie seine Energie bezieht.
Von den Fernsehleuten erhielt ich die unwahrscheinlichsten Angebote. Einige boten mir an, eine Mi nik amera, am Ohr zu montieren und die Straßen zu besuchen, »die Sie kennen«, und den Leuten zu folgen, »über die Sie Bescheid wissen«. Die Journalisten träumten davon, aus Scampia eine Realityshow zu machen, in der man einen Mord und den Drogenverkauf live miterleben konnte. Ein Drehbuchautor gab mir ein Manuskript mit einer Geschichte von Blut und Tod, in dem der Teufel des neuen Jahrhunderts im Terzo-Mondo-Viertel zur Welt kam. Einen Monat lang wurde ich jeden Abend zum
Essen eingeladen und von Fernsehteams zu den absurdesten Initiativen gedrängt, da sie an Informationen aus erster Hand kommen wollten. In Secondigliano und Scampia entstand in der Zeit der Fehde ein richtiggehender Markt für Begleiter, offizielle Sprecher, Informanten und Führer durch das Reservat der Camorra. Viele Jugendliche entwickelten spezielle Techniken. Sie trieben sich in der Nähe der Stützpunkte der Journalisten herum, taten so, als wären sie Dealer oder stünden Schmiere, und sobald jemand den Mut hatte, sie anzusprechen, waren sie sofort bereit, zu erzählen, zu erklären und sich aufnehmen zu lassen. Als erstes gaben sie ihre Tarife bekannt. Fünfzig Euro für eine Aussage, hundert für eine Führung über den Drogenmarkt, zweihundert für den Besuch der Wohnung eines Dealers in den
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