Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
»Vele«.
Um den Weg des Goldes zu verstehen, genügt es nicht, nur die Metallader und das Bergwerk zu besuchen. Man muß in Secondigliano anfangen und dann der Spur der Imperien der Clans folgen. Die Kriege der Camorra umreißen die Herrschaftsgebiete der Familien auf der Landkarte im Hinterland Kampaniens, dem Kernland, das von manchen der Wilde Westen Italiens genannt wird, wo angeblich mehr Maschinenpistolen als Gabeln existieren. Jenseits der Gewalt, die in bestimmten Phasen zum Ausbruch kommt, wird hier ein unermeßlicher Reichtum produziert, von dem diese Landstriche nur einen fernen Abglanz abkriegen. Davon aber berichten weder die Fernsehsender noch die Korrespondenten, deren ganze Mühe darauf gerichtet ist, die Ästhetik der neapolitanischen Slums einzufangen.
Am 29. Januar wird Vincenzo De Gennaro ermordet, am 31. Januar Vittorio Bevilacqua in einer Salumeria. Am 1. Februar werden Giovanni Orabona, Giuseppe Pizzone und Antonio Patrizjo massakriert. Die Killer gehen nach altbewährtem Muster vor und verkleiden sich als Polizisten. Der dreiund-zwanzigjährige Giovanni Orabona war Stürmer bei Real Ca-savatore. Mit zwei anderen ging er spazieren, als ein Auto sie aufhielt. Es hatte eine Sirene auf dem Dach. Zwei Männer mit Polizeiausweis stiegen aus. Die jungen Männer versuchten nicht, zu fliehen oder Widerstand zu leisten. Sie wußten, wie sie sich verhalten mußten: Handschellen anlegen lassen und ins Auto einsteigen. Das Auto hielt dann plötzlich, und die drei sollten aussteigen. Sie begriffen wohl nicht gleich, aber als sie die Pistolen sahen, war alles klar. Eine Falle. Die vermeintlichen Polizisten waren Spanier. Die Aufrührer. Zwei mußten sich hinknien und wurden mit einem Kopfschuß sofort getötet, der dritte, so zeigten die Spuren, hatte mit hinter dem Rücken gefesselten Händen zu fliehen versucht, so daß er nur durch Schulter- und Kopfbewegungen das Gleichgewicht halten konnte. Er stürzte. Kam wieder hoch. Fiel wieder hin. Dann erwischten sie ihn und hielten ihm die Pistole in den Mund. Die Leiche hatte zerbrochene Zähne, denn der junge Mann hatte in den Pistolenlauf gebissen, instinktiv, als könnte er ihn zermalmen.
Am 27. Februar wurde gemeldet, daß Raffaele Amato in Barcelona verhaftet worden sei. In einem Spielkasino hatte er beim Black Jack versucht, Bargeld in Umlauf zu bringen. Die Di Lauro hatten bis dahin nur seinen Cousin Rosario zu fassen bekommen und dessen Haus niedergebrannt. Den Ermittlungen der neapolitanischen Staatsanwaltschaft zufolge war Amato der unangefochtene Anführer der Spanier. Er war in der Via Cupa dell’Arco, wo auch Paolo Di Lauro mit seiner Familie wohnten, aufgewachsen. Amato war zu einem wichtigen Manager aufgestiegen, seit er für den Drogenhandel und die Investitionseinsätze verantwortlich war. Aussagen von Kronzeugen und Untersuchungen der Antimafia-Ko mmi ssion belegen, daß er bei den internationalen Rauschgifthändlern einen sehr guten Ruf besaß und tonnenweise Kokain importierte. Bevor maskierte Polizisten ihn im Spielkasino mit dem Gesicht nach unten auf den Boden zwangen, war Raffaele schon einmal verhaftet worden: in einem Hotel in Casandrino zusammen mit einem anderen Statthalter der Gruppe und einem albanischen Rauschgiftgroßhändler, dem als Dolmetscher kein Geringerer als der Neffe eines Ministers aus Tirana zur Seite stand.
Am 5. Februar ist Angelo Romano an der Reihe. Am 3. März wird Davide Chiarolanza in Melito erschossen. Er hat die Killer erkannt, vielleicht war er sogar mit ihnen verabredet, und wird getötet, als er in Richtung seines Autos zu fliehen versuchte. Weder Staatsanwaltschaft noch Polizei noch Carabinieri können die Fehde stoppen. Die Sicherheitskräfte verhindern manche Weiterungen, ziehen Beteiligte aus dem Verkehr, scheinen aber nicht in der Lage zu sein, dem Blutvergießen ein definitives Ende zu bereiten. Während die übrige Presse die Chronik der Verbrechen verfolgt und sich in Interpretationen und Bewertungen ergeht, erfährt ein neapolitanisches Blatt von einem Pakt zwischen den Spaniern und den Di Lauro, von einem plötzlichen Friedens schluß durch die Vermittlung des Clans der Licciardi. Diesen Pakt haben die anderen Clans aus Secondigliano und vielleicht auch die anderen Kartelle der Camorra erzwungen, weil sie fürchten, ihre in einem Jahrzehnt im Verborgenen herangewachsene Macht werde nun ins Rampenlicht gezerrt. Statt dessen sollten die Institutionen die Territorien der kriminellen Akk
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