Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Verhaftung muß laut herausposaunt werden, man muß zeigen, daß der Ungreifbare ergriffen worden ist, der Boss. Sobald der Geleitzug der gepanzerten Fahrzeuge und Streifenwagen eintrifft und die Carabinieri sehen, daß auch die Presse schon vor der Kaserne wartet, setzen sie sich mit heruntergezogener Gesichtsmaske und schußsicherer Weste rittlings auf die heruntergekurbelten Fenster der Autotüren und halten die Pistole im Anschlag. Nach der Verhaftung von Giovanni Brusca wollten sich alle Carabinieri und Polizisten in dieser Haltung aufnehmen lassen. Entschädigung für das nächtelange Wachestehen, Befriedigung darüber, die Beute endlich geschnappt zu haben, schlaue Pressepolitik, um auf jeden Fall auf den Titelseiten zu erscheinen. Als Paolo Di Lauro aus der Kaserne kommt, tritt er nicht hochfahrend auf wie sein Sohn Cosimo, sondern beugt sich nach unten, das Gesicht so tief wie möglich, und bietet den Kameraleuten und Fotografen nur seine Halbglatze dar. Vielleicht will er sich damit nur schützen. Vielleicht hätten die von Hunderten Objektiven von allen Seiten aufgenommenen und in ganz Italien verbreiteten Bilder manchem unwissenden Nachbarn gezeigt, daß er ihm begegnet war. Besser den Ermittlungen keinen Vorschub leisten, die Wege des Lebens im Untergrund nicht enthüllen. Einige halten das Senken des Kopfes einfach für ein Zeichen dafür, daß er Blitzlichtgewitter und Kamerapulks verabscheut und es haßt, wie ein Stück Vieh vorgeführt zu werden.
Einige Tage später erscheint Paolo Di Lauro vor Gericht, im Saal Nr. 215. Ich habe mich zu den Verwandten gesetzt. Der Boss sagt nichts weiter als »anwesend«. Alles übrige formuliert er ohne Worte. Gesten, Zwinkern, Blinzeln, Lächeln bilden die stumme Syntax, mit deren Hilfe er aus seinem Käfig heraus kommuniziert. Er grüßt, antwortet, beruhigt. Hinter mir hat ein Herr mit grauen Schläfen Platz genommen. Paolo Di Lauro schien mich zu fixieren, dabei meinte er den Mann hinter mir. Sie blicken sich eine Weile an, dann zwinkert der Boss ihm zu.
Es sieht so aus, als seien auf die Nachricht von der Verhaftung hin viele gekommen, um den Boss zu begrüßen, den sie, weil er untergetaucht war, jahrelang nicht hatten treffen können. Paolo Di Lauro trägt Jeans und ein dunkles Polohemd, dazu Schuhe von Cesare Paciotti wie alle führenden Persönlichkeiten der Clans hier. Die Wachen nehmen ihm die Handschellen ab. Di Lauro hat einen Käfig für sich. Im Gerichtssaal erscheint der Gotha der Clans aus dem Norden Neapels: Raffaele Abbinante, Enrico D’Avanzo, Giuseppe Criscuolo, Arcangelo Valentino, Maria Prestieri, Maurizio Prestieri, Sal-vatore Britti und Vincenzo Di Lauro. Vertraute und ehemalige Vertraute des Bosses, die jetzt in zwei verschiedene Käfige verteilt sind: die Getreuen und die Spanier. Am elegantesten ist Prestieri, im blauen Blazer und farblich abgestimmten hellblauen Button-Down-Hemd. Er nähert sich als erster der Glasscheibe, die ihn vom Boss trennt. Die beiden begrüßen sich. Auch Enrico D’Avanzo nähert sich, und sie können sich durch die Spalte zwischen den kugelsicheren Scheiben sogar etwas zuflüstern. Auch viele der führenden Mitglieder des Clans haben Paolo seit Jahren nicht gesehen. Sein Sohn Vincenzo hat ihn nicht getroffen, seit er 2002 seinerseits in Chi-vasso im Piemont untertauchte, wo er zwei Jahre später verhaftet wurde.
Ich beobachtete den Boss sehr genau. Mit der Interpretation jeder Geste, jeder Grimasse hätte ich, so schien es mir, Seiten um Seiten füllen können, um neue Codes der Zeichensprache festzulegen. Mit seinem Sohn entspann sich jedoch ein merkwürdiger stummer Dialog. Vincenzo deutete mit dem Zeigefinger auf den Ringfinger seiner Linken, als wollte er seinen Vater fragen: »Was ist mit dem Trauring?« Der Boss streifte mit den Händen auf beiden Seiten des Kopfes nach hinten und tat dann so, als säße er am Steuer eines Wagens. Ich konnte diese Gesten nicht deuten. Die Zeitungen verstanden sie so, daß Vincenzo seinen Vater gefragt habe, warum er keinen Trauring trage, und der Vater habe geantwortet, die Carabinieri hätten ihm allen Schmuck weggenommen. Nach der Verständigung durch Gebärden, Zwinkern, stumm geformte Silben, Augenkontakt und auf das Panzerglas gelegte Hände ließ Paolo Di Lauro seinen Blick lächelnd auf dem Sohn ruhen. Sie küßten beide die Scheibe. Am Ende der Verhandlung verlangte der Rechtsanwalt, eine Umarmung zwischen Vater und Sohn zuzulassen. Sie wurde gestattet und von
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