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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
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Wohnungstüren standen offen, und niemand achtete darauf, wessen Wohnung es war und wer all die guten Sachen auf die Tische gestellt hatte. Vollkommen betrunken fuhr ich mit meiner Vespa immer wieder zu einer noch geöffneten Bar, um Nachschub an Rotwein und Cola zu holen. In dieser Nacht war Secondigliano still und erschöpft. Ohne Journalisten und Hubschrauber. Ohne Drogenkuriere und Schmieresteher. Eine Stille, die müde machte, wie wenn man mit im Nacken verschränkten Armen nachmittags im Sand liegt und an nichts mehr denkt.
Frauen
    Ich nahm einen undefinierbaren Geruch an mir wahr. Wie wenn sich der Gestank von schlechtem Fett von einem Imbißstand in den Mantel hängt, ein Gestank, der erst langsam wieder vergeht und sich mit dem der Auspuffgase mischt. Du kannst zigmal duschen, stundenlang mit Badesalzen und duftenden Schaumbädern in der Wanne die Haut einweichen: der Geruch geht nicht weg. Nicht weil er ins Fleisch eingedrungen ist wie der Schweiß der Vergewaltiger, sondern du merkst allmählich, daß du ihn längst in dir hattest, als käme er von einer Drüse, die bisher nie angeregt worden war, einer schlummernden Drüse, die plötzlich diesen Geruch absondert, ausgelöst nicht so sehr von Angst, sondern von einer Ahnung der Wahrheit. Als ob irgend etwas in deinem Körper dir ein Zeichen gäbe, daß du vor der Wahrheit stehst. Sie mit allen Sinnen wahrni mms t. Unvermittelt. Keine Wahrheit aus zweiter Hand, berichtet und abgelichtet, sondern klar und deutlich vor dir. Verstehen, wie die Dinge laufen, wie die Gegenwart funktioniert. Kein Gedanke kann die Wahrheit dessen belegen, was du erlebt hast. Wenn du die Opfer im Krieg der Camorra mit eigenen Augen gesehen hast, drängen sich im Gedächtnis zu viele Bilder, sie kommen nicht einzeln hoch, sondern alle auf einmal, sie überlagern und vermischen sich. Auf die Augen kannst du dich nicht verlassen. Nach einem Krieg der Camorra bleiben keine Ruinen zurück, und das Sägemehl trocknet das Blut schnell auf. Als ob nur du allein alles gesehen oder erlitten hättest, als ob jemand mit dem Finger auf dich zeigen und sagen wollte: »Nein, es ist nicht wahr.«
    Die Auswüchse eines Krieges zwischen den Clans, die gegeneinander gerichteten Kapitalstrategien und die Investitionen, die den Konkurrenten auslöschen sollen, finden immer eine tröstliche Begründung, eine Deutung, um die Gefahr zu verlagern und einen Konflikt, der sich in Wirklichkeit im eigenen Hausflur abspielt, als fern, sehr fern erscheinen zu lassen. Man kann alles in ein selbstkonstruiertes Sinngebäude einfügen, aber Gerüche lassen sich nicht in Reih und Glied bringen, sie sind einfach da. Wie die letzte und einzige Spur eines verlorenen Erfahrungsschatzes. Mir waren Gerüche in der Nase hängen geblieben: nicht nur der Geruch von Sägemehl und Blut, nicht nur das Rasierwasser auf den Wangen noch bartloser Kindersoldaten, sondern vor allem weibliche Düfte. Ich trug noch den schweren Geruch der Deodorants, des Haarlacks und der süßlichen Parfüms in der Nase.
    Die Frauen spielten in der Dyna mik der Macht in den Clans immer eine Rolle. Nicht zufällig wurden während der Fehde von Secondigliano zwei Frauen mit einer Grausamkeit umgebracht, wie sie normalerweise nur die Männer trifft. Und Hunderte von Frauen waren auf die Straße gegangen, um die Verhaftung von Dealern und Posten zu verhindern, sie hatten Müllcontainer in Brand gesetzt und die Carabinieri abgedrängt. Immer wenn irgendwo eine Fernsehkamera auftauchte, sah ich, wie sich die Mädchen vor die Objektive drängten, lächelten, ein paar Takte trällerten, interviewt werden wollten, die Fernsehleute umschwänzelten und nach dem Logo des Teams suchten, um zu wissen, von welchem Sender sie aufgenommen wurden. Man weiß ja nie. Vielleicht wurde jemand auf sie aufmerksam und lud sie zu einer Sendung ein. Hier bietet sich eine Gelegenheit nicht, man muß sie mit Gewalt an sich reißen, sie kaufen und nach ihr wühlen. Günstige Gelegenheiten müssen erzwungen werden. So geht es auch mit den Jungen, nichts wird dem Zufall der Begegnung, dem Schicksal des Sichverliebens überlassen. Hinter jeder Eroberung steckt eine Strategie. Leichtsinnige Mädchen, die darauf verzichten, laufen Gefahr, überall betatscht und bedrängt zu werden. Enganliegende Jeans und bauchfreie T-Shirts: alles muß die Schönheit wie einen Köder betonen. Schönheit ist an bestimmten Orten wie eine Falle, freilich eine sehr hübsche Falle. Wenn du darauf

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