Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
geworfenen Küssen während der Gerichtsverhandlungen.
Das Bild der Frauen in der Camorra scheint sich aus Klischees zusammenzusetzen, Frauen, die nur auf den Schmerz und den Willen der Männer reagieren: den ihrer Brüder, Ehemänner und Söhne. Das stimmt nicht. Die Veränderung der Camorra in den letzten Jahren hat sich auch auf die Lage der Frauen ausgewirkt, von der Rolle der Mutter und treuen Begleiterin in Glück und Unglück wandelt sie sich zur Figur der Managerin, die fast ausschließlich die unternehmerische und finanzielle Seite betreut, während sie die militärischen Dinge und den Drogenhandel anderen überläßt.
Als Managerin der Camorra ist sicherlich Anna Mazza in die Geschichte eingegangen, die Witwe des Paten von Afra-gola, eine der ersten Frauen, die in Italien wegen der Mitgliedschaft in einer mafiaartigen Vereinigung verurteilt worden sind, als Oberhaupt einer der mächtigsten kriminellen und unternehmerischen Bündnisse. Anna Mazza nutzte anfangs die Aura ihres Mannes Gennaro Moccia, der in den siebziger Jahren umgebracht worden war. »Die schwarze Witwe der Camorra«, wie man sie nannte, war mehr als zwanzig Jahre lang der Kopf des Moccia-Clans und konnte ihren Einfluß so ausdehnen, daß sie in den neunziger Jahren, als sie auf polizeiliche Anweisung in der Nähe von Treviso leben mußte, Kontakte zur dortigen Mafia an der Brenta aufnahm und trotz völliger Isolation damit beschäftigt war, das Netz ihrer Herrschaft wiederherzustellen. Unmittelbar nach dem Tod ihres
Mannes wurde sie beschuldigt, ihren noch nicht dreizehnjährigen Sohn dazu angestiftet zu haben, den Auftraggeber für die Ermordung ihres Ehemannes zu töten. Aus Mangel an Beweisen wurde sie von dieser Anklage freigesprochen. Anna Mazza organisierte ihren Clan als streng hierarchisches Unternehmen und lehnte militärische Eskalationen ab, dennoch reichte ihr Einfluß in alle Winkel des von ihr beanspruchten Territoriums, wie im Jahre 1999 die Auflösung des Gemeinderates von Afragola wegen Verbindungen zur Camorra bewies. Die Politiker hörten auf Anna Mazza und suchten ihre Unterstützung. Sie war eine Pionierin. Vor ihr gab es lediglich Pupetta Maresca, die schöne Mörderin, die in den fünfziger Jahren in ganz Italien bekannt wurde, weil sie, im sechsten Monat schwanger, den Mord an ihrem Mann Pascalone ‘e Noia gerächt hatte.
Anna Mazza war nicht nur ein Racheengel. Sie begriff, daß sie die kulturelle Rückständigkeit der Bosse der Camorra ausnutzen und eine Straflosigkeit genießen konnte, die den Frauen vorbehalten blieb. Diese kulturelle Rückständigkeit schützte sie vor Anschlägen, Neid und Konflikten. In den achtziger und neunziger Jahren widmete sie sich vor allem dem Erfolg ihrer Unternehmen und kämpfte geduldig um den Aufstieg im Bauwesen. Der Moccia-Clan wurde zu einem der wichtigsten Bauunternehmen, kontrollierte Steinbrüche und war als Grundstücksmakler tätig. Das ganze Gebiet von Frat-tamaggiore, Crispano, Sant’Antimo bis Frattaminore und Cai-vano wurde von den Capi der Moccia beherrscht. In den neunziger Jahren waren sie eine der tragenden Säulen der Nuova Famiglia, dem Kartell, das die Nuova Camorra Organizzata von Raffaele Cutolo bekämpfte und die Kartelle der Cosa No-stra in den Schatten stellte, was Umsatz und politischen Einfluß betraf. Nach dem Zusammenbruch der Parteien, die von dem Bündnis mit den Unternehmen der Clans profitiert hatten, wurden lediglich die Bosse der Nuova Famiglia zu Zuchthausstrafen verurteilt. Diese aber wollten nicht für die Politiker büßen, denen sie geholfen und die sie unterstützt hatten.
Sie wollten nicht als krankhafter Auswuchs eines Systems gelten, das sie vielmehr aufrechterhalten hatten und dessen lebendiger und produktiver, wenn auch krimineller Teil sie gewesen waren. Deshalb beschlossen sie, sich zu rächen. In den neunziger Jahren begann als erster hochrangiger unternehmerischer und militärischer Vertreter der Camorra Pasquale Galasso, der Boss von Poggiomarino, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Namen, Strategien, Kapitalströme, alles legte er offen, und als Gegenleistung sicherte ihm der Staat zu, das Vermögen seiner Familie und teilweise auch sein eigenes nicht anzutasten. Galasso gab alles preis, was er wußte. Innerhalb des großen Bündnisses übernahmen die Moccia die Aufgabe, Galasso für immer zum Schweigen zu bringen. Seine Aussagen hätten mit einigen wenigen Enthüllungen das Imperium der Witwe in kürzester Zeit zum Einsturz
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