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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
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der Macht abwechselten, und auch die Menschen in ihrem Herrschaftsgebiet. Aber alles basiert nur auf Gerüchten, Vermutungen und Verdachtsmomenten und kann zwar zu einer aufsehenerregenden Verhaftung oder zur Folterung eines Menschen führen, aber keinen Anspruch auf Wahrheit erheben. Eine Wahrheit, die immer gedeutet werden muß - wie eine Hieroglyphe, die man, so hast du gelernt, lieber nicht entziffert.
    Secondigliano lebte wieder nach seinen herkö mmli chen ökonomischen Mechanismen. Alle Führungsfiguren der Spanier und der Di Lauro saßen im Gefängnis. Neue Capi stiegen auf, neue blutjunge Manager erprobten ihre Fähigkeiten an den Schalthebeln der Macht. Der Begriff Fehde verschwand allmählich aus dem Vokabular, und man sprach statt dessen von »Vietnam«.
    »Der war in Vietnam ... deswegen muß er jetzt ganz ruhig sein.«
    »Nach Vietnam haben jetzt alle Angst hier ...«
    »Vietnam ist jetzt doch vorbei, oder?«
    Solche Gesprächsfetzen der neuen Generation der Clans, abgehört von den Carabinieri, führten am 8. Februar 2006 zur Verhaftung von Salvatore Di Lauro, dem achtzehnjährigen Sohn des Bosses, der ein kleines Heer von Jugendlichen für den Drogenverkauf zusammenstellen wollte. Die Spanier hatten die Schlacht verloren, aber ihr Ziel erreicht, sich mit einem eigenen Kartell unabhängig zu machen und die Hegemonie auszuüben. Die Carabinieri fingen eine SMS ab, die ein junges Mädchen einem ganz jungen Capo schickte, der während der Fehde im Gefängnis gelandet war und nach seiner Freilassung sofort wieder mit dem Drogenhandel begonnen hatte: »Glückwunsch zur Arbeit und zur Rückkehr ins Viertel, ich bin froh über deinen Sieg. Gratuliere!«
    Die Gratulation galt dem militärischen Sieg, den der Junge auf der richtigen Seite erlebt hatte. Die Di Lauro sitzen zwar im Gefängnis, aber sie haben ihre Haut und das Business gerettet, wenigstens das der Familie.
    Die Lage beruhigte sich unmittelbar nach den Vereinbarungen zwischen den Clans und nach den Verhaftungen. Secondi-gliano war erschöpft, von zu vielen Menschen überschwemmt, fotografiert, gefilmt, mißbraucht. Erschöpft von allem. Ich trieb mich immer noch dort herum und hielt vor den Murales von Felice Pignataro an, vor den Sonnengesichtern, vor den Totenköpfen auf Puppenfiguren. Murales, die den Betonmauern einen Anstrich von Leichtigkeit und unerwarteter Schönheit geben. Plötzlich explodierten am Himmel Feuerwerks körper, und das Geknalle nahm kein Ende. Die Presseteams, die ihre Stationen nach der Verhaftung der Bosse gerade abbauten, stürzten hin, um zu sehen, was da vor sich ging. Die letzten wertvollen Aufnahmen, zwei ganze Mietskasernen, die ein Fest feierten. Die Journalisten machten ihre Mikrophone bereit, richteten die Scheinwerfer auf die Gesichter, kündigten telefonisch in der Redaktion einen Bericht darüber an, wie die Spanier die Verhaftung von Paolo Di Lauro feiern. Ich trat näher, um zu fragen, was los sei, und ein Junge antwortete mir bereitwillig: »Es ist für Peppino, er ist aus dem Koma erwacht.« Peppino war ein Jahr zuvor auf dem Weg zur Arbeit mit seinem motorisierten Dreirad, der Ape, ins Schleudern gekommen und hatte sich überschlagen. Die Straßen Neapels sind wasserlöslich, nach zwei Stunden Regen beginnt der Basalt zu schwimmen, und der Asphalt löst sich auf, als sei er mit Salzwasser hergestellt. Als die Ape sich überschlug, erlitt Peppino ein schweres Gehirntrauma. Das Fahrzeug mußte man mit einem von den Feldern herbeigeholten Traktor aus dem Straßengraben ziehen. Nach einem Jahr erwachte Peppino aus dem Koma und durfte einige Monate später nach Hause. Nun feierte das Viertel seine Rückkehr. Unmittelbar danach, noch bevor er im Rollstuhl saß, stiegen die ersten Feuerwerkskörper in den Himmel. Die Kinder ließen sich fotografieren, während sie seinen kahlrasierten Kopf streichelten. Peppinos Mutter schirmte ihren Sohn gegen allzu heftige Zärtlichkeiten und Küsse ab, weil er noch sehr schwach war. Die Korrespondenten vor Ort erklärten ihren Redaktionen, die angekündigte Serenade Kaliber 38 habe sich in ein Fest für einen aus dem Koma erwachten Jungen verwandelt, und bliesen das Ganze ab. Sie kehrten in ihre Hotels zurück, ich blieb und ging mit in Peppinos Wohnung, wie einer, der sich bei einem fröhlichen Fest einschleicht, das er nicht verpassen will. Die ganze Nacht stieß ich mit den Leuten aus dem Haus auf Peppinos Wohl an. Alle saßen auf Treppen und Treppenabsätzen, die

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