Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
reinfällst und dem Genuß des Augenblicks folgst, weißt du nicht, was dich erwartet. Das Mädchen gilt am meisten, das den Besten zu umgarnen weiß und ihn, wenn er in die Fall getappt ist, nicht mehr losläßt, ihn bindet, ihn erträgt und, selbst mit zugehaltener Nase, vereinnahmt. Aber ihn für sich behält. Ganz und gar. Einmal fuhr ich an einer Schule vorbei, als gerade ein Mädchen von einem Motorrad stieg. Langsam, damit alle das Motorrad bewundern konnten, den Helm, die Motorradhandschuhe und ihre hochhackigen spitzen Stiefel, mit denen sie kaum auf den Boden kam. Der Hausmeister, einer von denen, die ganze Generationen von Schulkindern haben Revue passieren sehen, ging auf sie zu und fragte: »France’, habt ihr schon was miteinander? Und ausgerechnet Angelo, du weißt doch, daß der in Poggioreale enden wird?«
»Etwas miteinander haben« bedeutet nicht, Sex zu haben, sondern, wie man früher sagte, miteinander gehen. Dieser Angelo war erst vor kurzem Mitglied im System geworden und schien schon eine nicht unwichtige Rolle zu spielen. Seine Freundin versuchte gar nicht, ihren Angelo zu verteidigen, sondern gab eine Antwort, die sie offensichtlich schon fertig in der Tasche hatte: »Wo ist da das Problem, ich krieg doch trotzdem jeden Monat mein Geld? Der mag mich wirklich ...«
Die mesata, die monatliche Zahlung. Das ist der erste Erfolg für ein Mädchen. Wenn ihr Freund im Gefängnis landen würde, bekäme sie jeden Monat Geld. Diese Summe zahlen die Clans den Familien ihrer Mitglieder. Sobald jemand eine feste Freundin hat, bekommt sie das Geld, auch wenn es als Nachweis der Beziehung besser ist, schwanger zu sein. Man muß nicht unbedingt heiraten, ein Kind genügt, auch ein noch ungeborenes. Wenn ein Mädchen nur »verlobt« ist, läuft sie Gefahr, daß sich eine andere beim Clan meldet und Ansprüche erhebt, eine geheime Geliebte, und beide Frauen wußten nichts voneinander. In diesem Fall entscheidet entweder der Capo, ob die mesata zwischen den beiden Frauen aufgeteilt wird, was zu gefährlichen Spannungen unter den Familien führen kann, oder das Mitglied muß entscheiden, wer die Summe erhalten soll. Meist aber bekommt keine der beiden Frauen das Geld, sondern direkt die Familie des Inhaftierten, damit das Problem ein für allemal aus der Welt geschafft ist. Nur Heirat oder Kinder garantieren sicheren Unterhalt. Das Geld wird meist in bar entrichtet, um zu vermeiden, daß die Zahlungen auf den Bankauszügen Spuren hinterlassen. Die sogenannten »U-Boote« teilen die Monatsgehälter aus. Der Name kommt daher, daß diese Leute unsichtbar herumschleichen. Sie lassen sich nie sehen und dürfen nicht erkennbar sein, denn sonst wären sie erpreßbar, könnten unter Druck gesetzt oder beraubt werden. Sie tauchen plötzlich an der Ecke auf und kommen nie auf dem gleichen Weg. Die U-Boote haben nur mit den Gehältern der einfachen Clanmitglieder zu tun. Die Führungskräfte verhandeln je nach Bedarf direkt mit den Kassenwarten. Die U-Boote gehören nicht zum System und werden nicht als Mitglieder aufgenommen; sie könnten die Verwaltung der Löhne ausnützen und innerhalb des Clans Ansprüche stellen. Meist handelt es sich um Rentner, alte Buchhalter, die mit dieser Arbeit für die Clans ihre Rente aufstocken, etwas außerhalb des Hauses zu tun haben und nicht vor dem Fernseher verfaulen müssen. Jeden 28. des Monats klopfen sie an die Tür, legen ihre Plastiktüte auf dem Tisch ab und holen dann aus der prall gefüllten Innentasche ihres Jacketts einen Umschlag mit dem Namen des toten oder im Gefängnis sitzenden Mitglieds heraus, um ihn der Ehefrau oder, wenn die nicht da ist, dem ältesten Sohn auszuhändigen. Meist bringen sie außer der monatlichen Zahlung auch etwas zu essen. Schinken, Obst, Pasta, Eier, ein bißchen Brot. Man hört, wie die Tüten im Treppenhaus rascheln. Dieses dauernde Rascheln und die schweren Schritte der alten Männer sind das Klingeln der U-Boote. Sie sind immer vollbepackt wie Lastesel, denn sie kaufen alles im selben Lebensmittelladen und beim selben Gemüsehändler, ein Großeinkauf, der an alle Familien verteilt wird. Wie viele Ehefrauen oder Witwen von Camorristen in einer
Straße wohnen, sieht man daran, wie schwer beladen das U-Boot ist.
Don Ciro ist das einzige U-Boot, das ich kennengelernt habe. Er verteilte in der Altstadt die Gehälter von Clans, die allmählich auseinanderfielen, sich jedoch in dieser neuen fruchtbaren Phase nicht nur über Wasser zu halten,
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