Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
bringen können. Die Moccia versuchten, seinen Leibwächter zu bestechen und ihn zu vergiften, dann planten sie, ihn mit einer Bazooka zu töten. Doch nachdem die militärischen Versuche der Männer ihres Hauses gescheitert waren, trat Anna Mazza auf den Plan, die ahnte, daß der Zeitpunkt für ein neues Vorgehen gekommen war. Sie schlug vor, die Camorristen sollten sich wie Terroristen von der Organisation lossagen. Die Mitglieder der Roten Brigaden erklärten ihre Abkehr vom bewaffneten Kampf, ohne mit der Justiz zusammenzuarbeiten, ohne Namen zu nennen und ohne Auftraggeber oder Täter zu denunzieren. Abkehr bedeutete, sich ideologisch zu distanzieren, eine Gewissensentscheidung zu treffen und einer politischen Praxis ihre Rechtfertigung abzusprechen, bei der die rein moralische, öffentlich erklärte Ablehnung bereits Strafnachlaß einbrachte. Das erschien der Witwe Mazza als der beste Trick, um die Zusammenarbeit mit der Justiz zu eliminieren und gleichzeitig den Glauben zu erwecken, die Clans hätten nichts mit dem Staat zu tun. Sich ideologisch von der Camorra lossagen, um Vorteile wie Strafnachlaß und erleichterte Haftbedingungen zu genießen, ohne Mechanismen, Namen, Kontonummern und Bündnisse offenzulegen. Was von manchen Beobachtern als die Ideologie der Camorra betrachtet wurde, war für die Clans selbst nichts anderes als die wirtschaftliche und militärische Praxis von Geschäftsleuten. Die Clans befanden sich in einer Phase der Veränderung: die kriminelle Rhetorik verschwand, die Manie Cutolos, das Handeln der Camorra zu ideologisie-ren, hatte sich erschöpft. Die Abkehr bot sich als die Lösung für die tödliche Wirkung der Kronzeugenregelung an, die trotz ihrer vielfachen Widersprüche den Kern des Angriffs auf die Macht der Camorra bildet. Die Witwe erkannte das hohe Potential dieses Tricks. Ihre Söhne schrieben an einen Priester, um zu zeigen, daß sie sich lossagen wollten, ein Auto voller Waffen vor einer Kirche in Acerra sollte das Symbol der »Abkehr« des Clans sein, wie es die IRA gegenüber den Engländern getan hatte. Waffenabgabe. Doch die Camorra ist nicht der bewaffnete Arm einer Unabhängigkeitsbewegung, und ihre Waffen sind nicht Ausdruck ihrer wirklichen Macht. Das Auto tauchte nie auf, und die Strategie der Abkehr, die dem Gehirn eines weiblichen Bosses entsprungen war, verlor allmählich ihre Anziehungskraft, sie fand weder im Parlament noch bei der Justiz Gehör und wurde nicht einmal mehr von den Clans unterstützt. Statt dessen nahm die Zahl der Kronzeugen zu, die immer nutzlosere Wahrheiten ans Licht brachten. Die Aussagen von Galasso jedoch gaben zwar den militärischen Apparat der Clans preis, die unternehmerischen und politischen Pläne ließen sie praktisch unangetastet. Anna Mazza baute weiter an ihrem camorristischen Matriarchat. Frauen als wahres Machtzentrum, die Männer nur noch zuständig für den militärischen Flügel, als Vermittler und Führungsfiguren nur noch im Dienste der Frauen. Alle wichtigen ökonomischen und militärischen Entscheidungen traf allein die schwarze Witwe.
Die Frauen des Clans bewiesen überlegene unternehmerische Fähigkeiten, waren weniger darauf versessen, ihre Macht demonstrativ zur Schau zu stellen, und neigten weniger zu Auseinandersetzungen. Frauen als Manager, Frauen als Leibwächter, Frauen als Unternehmer des Clans. Eine der »Hausdamen« von Anna Mazza namens Immacolata Capone machte ebenfalls im Clan Karriere. Sie war Patentante der Tochter der Witwe. Während ihre Chefin matronenhaft wirkte mit ihren hochtoupierten Haaren und runden Wangen, war Immacolata zierlich, trug eine blonde, stets perfekte Kurzhaarfrisur und kleidete sich nüchtern-elegant. Sie hatte nichts von dem finsteren Aussehen eines Camorra-Mitglieds. Nicht sie war auf der Suche nach Männern, die ihr mehr Ansehen verleihen konnten, sondern die Männer suchten ihre Protektion. Sie heiratete Giorgio Salierno, der an dem Versuch beteiligt gewesen war, Galassos Zusammenarbeit mit der Polizei zu verhindern, und war später mit einem Mann aus dem Puca-Clan von Sant’Antimo liiert, einer Familie, die früher als mächtige Verbündete von Cutolo durch Antonio Puca, den Bruder von Im-macolatas Lebensgefährten, berühmt geworden war. Bei ihm wurde ein Adreßbuch mit dem Namen des Fernsehmoderators Enzo Tortora gefunden, der dann zu Unrecht als Camorrist angeklagt wurde. Als Immacolata soweit war, eine wichtige unternehmerische Rolle zu übernehmen, befand sich der
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