Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Unternehmen der Fa mili e gestört hätten.
Heute steht auf dem von ihren Firmen beherrschten Gebiet der größte Ikea-Komplex Italiens, und bald wird ausgerechnet von hier aus die Strecke für den Hochgeschwindigkeitszug in Süditalien gebaut werden. Zum wiederholten Mal wurde die Gemeindeverwaltung von Afragola im Oktober 2005 wegen Verbindungen zur Camorra aufgelöst. Eine Gruppe von Gemeinderäten von Afragola steht unter dem schweren Verdacht, den Leiter eines Handelsunternehmens gezwungen zu haben, mehr als zweihundertfünfzig Personen einzustellen, die eng mit dem Moccia-Clan verwandt waren.
Für den Beschluß zur Auflösung der Gemeindeverwaltung waren auch einige Bauvergaben maßgebend, bei denen die gesetzlichen Regelungen nicht eingehalten wurden. Es handelte sich um riesige Bauvorhaben auf Grundstücken der Bosse, und auch das Örtliche Krankenhaus sollte auf einem Gelände gebaut werden, das die Moccia gekauft hatten, als im Gemeinderat darüber beraten wurde. Grundstücke, die sie zu lächerlich niedrigen Preisen kauften und dann, nachdem sie für den Bau des Krankenhauses ausgewiesen waren, natürlich zu astronomischen Preisen verkauften. Dabei wurde ein Gewinn von sechshundert Prozent auf den ursprünglichen Kaufpreis erzielt. Einen solchen Gewinn konnten nur die Frauen der Moccia einfahren.
Frauen, die den Besitz und das Vermögen ihres Clans mit Klauen und Zähnen verteidigen. So auch Anna Vollaro, die Nichte des Bosses des Clans von Portici, Luigi Vollaro. Sie war neunundzwanzig Jahre alt, als die Polizei wieder einmal eines der Lokale der Familie, eine Pizzeria, schließen wollte. Die junge Frau nahm einen Kanister, übergoß sich mit Benzin und zündete sich mit einem Feuerzeug an. Damit niemand die Flammen löschen konnte, rannte sie wie wahnsinnig los. Schließlich prallte sie gegen eine Mauer und hinterließ einen schwarzen Fleck, wie wenn eine Stromleitung einen Kurzschluß hat. Anna Vollaro wurde zur lebenden Fackel, um gegen die Beschlagnahmung ihres mit illegalen Mitteln erworbenen Eigentums zu protestieren, das sie als natürliches Ergebnis eines ganz normalen Geschäftsgebarens betrachtete.
Man glaubt, bei der organisierten Kriminalität sei militärischer Erfolg Voraussetzung für eine Tätigkeit als Unternehmer. Das stimmt nicht, oder zumindest nicht immer. Beispielhaft dafür ist die Fehde von Quindici, einem Dorf in der Provinz Avellino, das seit Jahren unter der erdrückenden Präsenz der Clans Cava und Graziano leidet. Die beiden Familien bekämpfen sich schon immer, und beim Geschäft haben die Frauen das Sagen. Bei dem Erdbeben von 1980 wurde die Valle di Lauro zerstört, und die Milliarden, die für den Wiederaufbau zur Verfügung gestellt wurden, ließen eine camorristische Unternehmerschicht entstehen. Doch in Quindici ereignete sich mehr und etwas anderes als überall sonst in Kampanien;
hier kam es nicht nur zum Konflikt zwischen zwei Gruppierungen, sondern zu einer Familienfehde, die im Lauf der Jahre zu vierzig Attentaten auf beiden Seiten der Front führte. Ein unstillbarer Haß erfaßte wie eine ansteckende psychische Krankheit über mehrere Generationen hinweg alle Vertreter beider Familien. Der Ort mußte hilflos zusehen, wie sich die beiden Parteien gegenseitig abschlachteten. Die Cava hatten in den siebziger Jahren zum Clan der Graziano gehört. Zu der Auseinandersetzung führten die hundert Milliarden Lire für den Wiederaufbau, eine Summe, die zu Unstimmigkeiten über die Anteile an den Ausschreibungen und die Verteilung von Bestechungsgeldern führte. Die staatlichen Gelder erlaubten beiden Familien, unter Leitung der Frauen des jeweiligen Clans ansehnliche Bauunternehmen aufzubauen. Eines Tages klopfte ein Kommando der Cava an das Büro des Bürgermeisters, den die Graziano hatten wählen lassen. Weil sie nicht sofort schossen, hatte der Bürgermeister Zeit, das Fenster zu öffnen, aufs Rathausdach zu klettern, über die Dächer zu fliehen und dem Attentat zu entkommen. Zum Graziano-Clan gehörten fünf Bürgermeister, von denen zwei ermordet und drei vom Staatspräsidenten wegen Verbindungen zur Camorra abgesetzt wurden. Eines Tages jedoch schien sich die Lage zu ändern, als die junge Apothekerin Olga Santaniello zur Bürgermeisterin gewählt wurde. Nur eine hartnäckige Frau konnte sich der Macht der Frauen der Cava und Graziano entgegenstellen. Sie versuchte alles, um den Augiasstall auszumisten, aber es gelang ihr nicht. Als am 5. Mai 1998 die ganze
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