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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
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Eingriff und signalisiert keine erbitterte Feindseligkeit. Mehr als zweihundert Schüsse auf den Wagen und mehr als vierzig Schüsse in den Körper dagegen kommen der völligen Auslöschung gleich. Die Camorra besitzt ein überaus langes Gedächtnis und unendlich viel Geduld. Dreizehn Jahre, hundertsechsundfünfzig Monate, vier Kalaschnikows, zweihundert Schüsse, eine Patrone für jeden Monat des Wartens. In manchen Gegenden ist den Waffen geradezu eine Erinnerung eingeprägt. In stillem Zorn warten sie mit der Vollstreckung des Strafurteils, bis der geeignete Moment gekommen ist.
    An jenem Morgen glitten meine Finger über das Dekor der Einschußlöcher. Ich hatte meinen Rucksack geschultert, denn ich wollte verreisen, zu meinem Cousin nach Mailand. Schon merkwürdig: ganz gleich, mit wem man spricht, ganz gleich auch, worüber, kaum sagt man, daß man weggeht, wird man mit Glückwünschen, Komplimenten und begeisterten Kommentaren überhäuft: »Recht hast du. Du tust genau das Richtige, ich würde es genauso machen.« Man braucht gar nicht genauer darzulegen, was man vorhat. Fürs Weggehen gibt es in jedem Fall bessere Gründe als fürs Dableiben. Fragt mich jemand, woher ich komme, bleibe ich die Antwort schuldig. Ich möchte sagen, ich stamme aus dem Süden, aber das klingt mir zu phrasenhaft. Fragt man mich im Zug nach meiner Herkunft, starre ich zu Boden und überhöre die Frage. Mir fällt dann nämlich Vittorinis Gespräch in Sizilien ein; würde ich auch nur den Mund aufmachen, liefe ich Gefahr, Silvestro Fer-rautos Ansichten nachzubeten. Und darum geht es gar nicht. Zwar andern sich die Zeiten, aber es ist das alte Lied. Im Eurostar lernte ich dann eine wohlbeleibte Dame kennen, die kaum auf ihren Sitzplatz paßte. Sie war in Bologna zugestiegen und redete und redete, um die Zeit zu überbrücken und als hoffte sie, dadurch schlanker zu werden. Partout wollte sie wissen, woher ich käme, was ich machte, wohin ich unterwegs sei. Ich hatte gute Lust, ihr als Antwort den Zeigefinger hinzustrecken und meine kleine Verletzung vorzuzeigen, mehr nicht. Aber ich ließ es bleiben. Ich sagte: »Ich komme aus Neapel.« Eine Stadt, so beredt, daß man nur ihren Namen auszusprechen braucht, und schon ist man jeglicher Antwortpflicht entbunden. Ein Ort, einzigartig im Guten wie im Schlechten. Ich schlief ein.
    Am nächsten Tag rief mich in aller Frühe Mariano an, ganz aufgeregt. Es würden Leute gebraucht, die die Planung und Durchführung einer überaus heiklen Operation von ein paar Geschäftsleuten aus unserer Gegend übernahmen. Der Gesundheitszustand Papst Johannes Pauls IL habe sich dramatisch verschlechtert, vielleicht sei er bereits verstorben, auch wenn es dafür noch keine offizielle Bestätigung gebe. Mariano bat mich, ihn nach Rom zu begleiten. Ich stieg an der nächsten Station aus und fuhr zurück. Läden, Hotels, Restaurants und Supermärkte würden schon in wenigen Tagen umfangreiche und außergewöhnliche Lieferungen aller möglichen Waren benötigen. Man konnte einen Haufen Geld verdienen. Millionen von Menschen würden binnen kürzester Zeit die Hauptstadt überfluten, die Straßen und Gehsteige in Besitz nehmen, und sie alle mußten essen und trinken, mit einem Wort: konsumieren. Man konnte die Preise verdreifachen, zu jeder Tages- und Nachtzeit verkaufen und jede Minute Gewinn machen. Man hatte Mariano mit der Organisation beauftragt, der mir vorschlug mitzumachen, und für diese Gefälligkeit würde er mir etwas Geld rüberschieben. Schließlich hat alles seinen Preis. Mariano versprach man einen Monat Urlaub, damit er seinen Traum wahr machen und nach Rußland reisen konnte, um Michail Kalaschnikow aufzusuchen. Er hatte sogar schon die Zusicherung des Mitglieds einer russischen Familie, das beteuerte, Kalaschnikow persönlich zu kennen. Mariano würde also die Gelegenheit haben, den Mann zu treffen, der das leistungsstarke Schnellfeuergewehr erfunden hatte. Er würde ihm in die Augen sehen und ihm die Hand schütteln.
    Am Tag der Beisetzung des Papstes wimmelte es in Rom nur so von Menschen. Die Straßen, die Gehsteige, nichts war mehr wiederzuerkennen. Menschen über Menschen, ein einziges Gewoge, bis in die Hauseingänge, selbst oben an den Fenstern. Ein Strom, der immer höher stieg, bis er sein Bett verließ. Überall Menschen, wirklich überall. Ein verschreckter Hund flüchtete sich zitternd unter einen Bus, denn jedes Fleckchen seines Lebensraums war von Schuhen und Beinen eingenommen.

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