Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
Vom Netzwerk:
du eigentlich, daß dein Cousin schon schießen kann? Und was ist mit dir? Bist du weniger wert als er?«
    Er brachte mich ins Villaggio Coppola am Litorale Domi-zio. Der Strand war eine Fundgrube voller zurückgelassener Gegenstände, alle von Salz zerfressen und mit Kalk verkrustet. Ich hätte tagelang graben können und Maurerkellen, Handschuhe, durchgelaufene Stiefel, kaputte Hacken und ramponierte Pickel gefunden, aber mein Vater hatte mich nicht hierhergebracht, damit ich im Müll spielte. Er streifte herum auf der Suche nach etwas, auf das ich schießen konnte. Am liebsten waren ihm Flaschen. Bierflaschen von Peroni. Er stellte sie auf das Dach eines ausgebrannten 127er Fiat, eines von zahlreichen Autowracks. An die Strände von Pinetamare brachte man sämtliche ausgebrannten Autos, die man bei Raubüberfällen oder Anschlägen verwendet hatte. Die Beretta 92 FS meines Vaters sehe ich noch genau vor mir. Sie war völlig zerkratzt, irgendwie fleckig, eine schone alte Pistole. Allgemein heißt sie nur M9, keine Ahnung, warum. Ich habe immer nur diese Bezeichnung gehört: »Ich schieße dir mit einer M9 zwischen die Augen. Muß ich meine M9 ziehen? Verdammt, ich muß mir eine M9 besorgen.« Mein Vater drückte mir die Beretta in die Hand. Ich fand sie sehr schwer. Der Griff dieser Pistole fühlt sich rauh an wie Schmirgelpapier. Er klebt einem in der Hand fest, und wenn einem die Waffe doch entgleitet, hat man das Gefühl, sie schürft einem mit ihren winzigen Zahnen die Haut auf. Mein Vater zeigte mir, wie man sie entsichert, lädt, den Arm ausstreckt, das rechte Auge schließt, wenn sich das Ziel links befindet, und zielt.
    »Robbe’, den Arm locker lassen, aber gerade halten. Ganz ruhig, aber nicht zu locker ... benutze beide Hände.«
    Bevor ich mit der ganzen Kraft meiner beiden übereinandergelegten Zeigefinger den Abzug drückte, kniff ich die Augen zusammen und zog die Schultern hoch, als wollte ich mir mit den Schulterblättern die Ohren zuhalten. Das Geräusch von Schüssen ist mir heute noch unerträglich. Ich muß irgend etwas am Trommelfell haben. Nach einem solchen Knall bin ich eine halbe Stunde wie benommen.
    In Pinetamare baute die mächtige Unternehmerfamilie Coppola die größte illegale Feriensiedlung Europas. Achthun-dertdreiundsechzigtausend Quadratmeter Zement, ein ganzes Dorf: Villaggio Coppola. Eine Baugenehmigung wurde nie beantragt, es war auch völlig unnötig. Ausschreibungen und Genehmigungen treiben hierzulande nur die Kosten in die Höhe, weil zu viele bürokratische Hürden genommen und zu viele
    Beamte geschmiert werden müssen. Die Coppola wandten sich direkt an die Zementfabriken. Zig Doppelzentner Zement für den Strand, an dem einst einer der schönsten Pinienwälder des Mittelmeers wuchs. Es wurden Hochhaustürme gebaut, aus deren Türsprechanlagen man das Meer rauschen hörte.
    Als ich nun zum erstenmal in meinem Leben ein Ziel anvisierte, empfand ich eine Mischung aus Stolz und Schuld. Ich konnte schießen, endlich hatte ich schießen gelernt. Jetzt konnte mir niemand mehr etwas anhaben. Gleichzeitig aber hatte ich gelernt, eine schreckliche Waffe zu handhaben. Eine Waffe, die man immer wieder benutzt, wenn man erst einmal gelernt hat, mit ihr umzugehen. Wie Fahrradfahren. Die Flasche ging nicht ganz in Scherben, sie blieb sogar stehen. Nur zur Hälfte zerschossen, auf der rechten Seite. Mein Vater lief zum Auto. Ich blieb mit der Pistole in der Hand zurück, aber merkwürdigerweise fühlte ich mich zwischen den Müllhaufen und den Autowracks nicht allein. Ich streckte den Arm in Richtung Meer und gab zwei weitere Schüsse ins Wasser ab. Ich sah kein Aufspritzen, vielleicht traf ich gar nicht das Wasser. Aber auf das Meer zu schießen kam mir mutig vor. Mein Vater kehrte mit einem Lederball zurück, auf dem Maradona abgebildet war. Die Belohnung dafür, daß ich getroffen hatte. Dann näherte er sich meinem Gesicht, wie er es so oft tat. Er roch nach Kaffee. Er war zufrieden, denn jetzt war sein Sohn zumindest nicht weniger wert als der Sohn seines Bruders. Es folgte die gewohnte Litanei, sein Katechismus:
    »Robbe’, was ist ein Mann ohne Universitätsdiplom und mit Pistole?«
    »Ein Arschloch mit Pistole.«
    »Bravo. Was ist ein Mann mit Universitätsdiplom und ohne Pistole?«
    »Ein Arschloch mit Universitätsdiplom.«
    »Bravo. Und was ist ein Mann mit Universitätsdiplom und mit Pistole?«
    »Ein Mann, Papa!«
    »Bravo, Robertino!«
    Nico ging noch auf wackeligen

Weitere Kostenlose Bücher