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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
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Beinen. Mein Vater ließ einen Wortschwall auf ihn los. Der Kleine verstand gar nichts. Zum erstenmal hörte er die italienische Sprache, auch wenn seine Mutter schlau genug gewesen war, ihn hier zur Welt zu bringen.
    »Hat er Ähnlichkeit mit dir, Roberto?«
    Ich musterte den Kleinen eindringlich. Und ich freute mich, für ihn. Er ähnelte mir kein bißchen.
    »Zum Glück sieht er mir nicht ähnlich!«
    Mein Vater machte sein übliches enttäuschtes Gesicht, als wollte er sagen, nicht einmal im Scherz bekäme er von mir das zu hören, was er gern hören würde. Ich hatte stets den Eindruck, mein Vater befände sich im Krieg und müsse eine Schlacht schlagen, in der es nur Freund oder Feind gab - und große Autos. Die Übernachtung in einem Zwei-Sterne-Hotel kam für ihn einem Prestigeverlust gleich. Als wäre er jemandem Rechenschaft schuldig, der hart mit ihm ins Gericht ginge, wenn er nicht reich, respektgebietend und witzig wäre.
    »Wer jemand sein will, Robbe’, darf sich von niemandem abhängig machen. Er muß sich seiner Sache sicher sein, aber er muß anderen auch Angst einjagen. Wenn niemand vor dir zittert, wenn niemand den Blick vor dir niederschlägt, hast du es letztlich nicht geschafft.«
    Wenn wir essen gingen, ärgerte er sich darüber, daß die Kellner manche Leute bevorzugt bedienten, auch wenn sie erst eine Stunde nach uns gekommen waren. Die Bosse na hm en Platz, und schon stand ihr Essen auf dem Tisch. Mein Vater grüßte sie. Aber er konnte nur schlecht seine Sehnsucht verbergen, mit demselben Respekt behandelt zu werden. Einem Respekt, der für ihn hieß, genauso um seine Macht beneidet zu werden, genausoviel Angst einzuflößen und genausoviel Geld zu besitzen.
    »Siehst du die da drüben. Die sind es, die wirklich das Sagen haben. Sie treffen die Entscheidungen! Die einen beherrschen die Wörter, die anderen die Dinge. Du mußt wissen, wer die
    Dinge beherrscht, und nur so tun, als würdest du denen glauben, die die Wörter beherrschen. Aber in dir drin mußt du immer wissen, was die Wahrheit ist. Nur der herrscht wirklich, der die Dinge beherrscht.« Die Beherrscher der Dinge, wie mein Vater sagte, saßen am Tisch. Sie hatten seit jeher die Geschicke dieses Landstrichs bestimmt. Sie speisten zusammen, sie lächelten. Dann schlachteten sie sich im Lauf der Jahre gegenseitig ab und hinterließen eine Spur der Verwüstung mit Tausenden von Toten, blutige Chiffren ihrer finanziellen Investitionen. Die Bosse wußten, was zu tun war, um die Unhöflichkeit vergessen zu machen, daß sie als erste bedient wurden. Sie spendierten sämtlichen Gästen des Lokals das Essen. Aber erst, als sie gingen: sie wollten nicht mit Dankesbezeigungen und Schmeicheleien behelligt werden. Alle bekamen ihr Essen bezahlt, bis auf zwei, den Lehrer Iannotto und seine Frau, die einen Gruß schuldig geblieben waren. Deshalb wagte man auch nicht, ihnen das Essen zu spendieren; allerdings hatte man ihnen durch den Kellner eine Flasche Limoncello an den Tisch geschickt. Ein Camorrist weiß, daß er auch seine erklärten Feinde hegen und pflegen muß, die wertvoller sind als die heimlichen Feinde. Dieser Lehrer mußte für meinen Vater als negatives Beispiel herhalten. Sie waren zusammen in der Schule gewesen. Iannotto wohnte zur Miete; er war aus seiner Partei ausgeschlossen worden, er war kinderlos, stets gereizt und schlecht gekleidet. Er unterrichtete in der neunten und zehnten Klasse eines Gymnasiums. Ich weiß noch, daß er sich ständig mit Eltern herumstritt, die ihn fragten, zu welchem seiner Bekannten sie ihre Kinder zur Nachhilfe schicken sollten, damit sie das Schuljahr schafften. In den Augen meines Vaters war Iannotto ein Verdammter. Ein lebender Toter.
    »Sagen wir, einer beschließt, Philosoph, und ein anderer, Arzt zu werden. Welcher von beiden entscheidet deiner Meinung nach über ein Menschenleben?«
    »Der Arzt!«
    »Richtig. Der Arzt. Er kann über ein Menschenleben entscheiden. Er kann entscheiden. Ob er es rettet oder nicht. Man tut nur dann Gutes, wenn man auch das Schlechte tun kann. Eine gescheiterte Existenz dagegen, eine Witzfigur, ein Nichtstuer, der kann nur Gutes tun, aber das ist geschenkt, es ist nichts wert. Gut ist etwas, wenn man sich bewußt dafür entscheidet, weil man auch das Schlechte tun könnte.«
    Ich sagte nichts. Ich habe nie verstanden, worauf er eigentlich hinauswollte. Ich verstehe es bis heute nicht. Vielleicht habe ich nicht zuletzt deshalb Philosophie studiert, um über

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