Gone 5: Angst (German Edition)
Wie von den Krallen eines wilden Tiers. Sie wirkten frisch. Und dann sah sie das Blut an seinen Fingernägeln.
Es war unmöglich, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Die Augen, diese entsetzlichen Augen von der Größe einer Kichererbse, waren leer, verrieten nichts.
»Keine Bewegung oder ich blas dir den Kopf weg«, sagte Astrid.
Der Junge schien sie mit seinen Augen zu suchen. Sie blickten über sie hinweg, dann zu ihrer Linken, verdrehten sich nach oben und sahen alles, nur nicht sie an.
»Bist du echt?«, fragte der Junge.
»Klar bin ich echt. Und dieses Gewehr auch.« Astrid hörte das Zittern in ihrer Stimme, aber das Gewehr gab ihr Sicherheit. Ein kurzer Druck mit dem Finger und dieses grausige Gesicht würde explodieren wie ein Wasserballon.
»Heißt du … bist du Astrid?«
Sie schluckte. Woher wusste er ihren Namen? »Wer bist du?«
»Ich heiße Bradley. Aber alle nennen mich Cigar.«
Automatisch senkte sie das Gewehr. »Cigar? Aber …?«
Als sich der Mund des Jungen zu einem Grinsen verzog, wurden die fehlenden und abgebrochenen Zähne sichtbar.
»Ich sehe dich.« Cigar streckte den Arm aus und deutete mit seiner blutigen Hand auf sie. Nur tat er es wie ein Blinder, zögernd und so, als tastete er ins Leere.
»Bleib, wo du bist«, fuhr sie ihn an und legte das Gewehr wieder an. »Was ist mit dir passiert?«
»Ich …« Er versuchte wieder zu lächeln, doch sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse, und dann stieß er ein Stöhnen aus, das in ein gequältes Weinen überging, bis es von einem irren Lachen abgelöst wurde.
»Cigar, hör zu. Du musst mir erzählen, was passiert ist.«
»Penny«, flüsterte er. »Sie hat mir Dinge gezeigt. Meine Hände waren …« Er hob sie vors Gesicht, doch seine Augen sahen ganz woanders hin und aus seiner Kehle drang ein heiseres Schluchzen.
»Das war Penny?« Astrid nahm das Gewehr herunter. Sie schlang es sich aber nicht wieder um die Schulter, sondern behielt es in der Hand.
»Ich esse gern Süßes, weißt du, aber ich hab was Schlimmes angestellt und dann war die Schokolade in meiner Hand. Ich hab die Schokolade gegessen und sie schmeckte so gut und da gab mir Penny mehr davon und die hab ich dann auch noch gegessen und das tat weh und dann war da plötzlich überall Blut, so viel Blut.«
Die winzigen Knopfaugen blickten auf einmal hinter Astrid.
»Kleiner Junge«, sagte Cigar.
Astrid wandte sich um, drehte den Kopf aber gleich wieder zu Cigar. Sie wusste noch nicht, ob sie ihm trauen konnte. Und noch während sie sich zu ihm drehte, wurde ihr bewusst, was sie hinter sich gesehen hatte.
Eigentlich nichts. Bis auf ein leichtes Flimmern in der Luft.
Sie blickte sich noch einmal um.
Nichts.
»Was war das?«, fragte sie Cigar.
»Kleiner Junge.« Cigar kicherte und hielt sich sofort die Hände vor den Mund, als hätte er etwas Unanständiges gesagt.
Astrid spürte einen Kloß im Hals. Sie bekam eine Gänsehaut. »Was für ein kleiner Junge?«
»Er kennt dich«, antwortete Cigar in einem Ton, als vertraute er ihr ein Geheimnis an. »Grelles gelbes Haar. Stechende blaue Augen. Er sagt, er kennt dich.«
Astrid wollte etwas erwidern, schaffte es aber nicht. Wagte nicht, zu fragen. Wagte nicht einmal, daran zu denken, wie die Antwort lauten könnte. Doch am Ende kam die Frage leise über ihre Lippen.
»Heißt der kleine Junge Pete?«
Cigars Hand wanderte hinauf zum Gesicht, blieb aber auf halbem Weg in der Luft hängen. Er sah aus, als lauschte er jemandem, obwohl außer dem raschelnden Gras und dem Knirschen der Heuschrecken nichts zu hören war.
Dann nickte er eifrig. »Kleiner Junge sagt: ›Hallo, Schwester.‹«
Draußen
Sergeant Darius Asthon wusste, dass er ein guter Automechaniker war. Doch daraus konnte man noch lange nicht schließen, dass er auch etwas von Druckluftkompressoren verstand. Sein Vorgesetzter hatte ihm gesagt, am Stützpunkt auf der anderen Seite der Kuppel würde ein Mechaniker gebraucht.
»Das ist der Luftwaffenstützpunkt«, wandte Darius ein. »Die haben doch sicher ihren eigenen Lüftungsmechaniker.«
»Keinen mit Ihrer Unbedenklichkeitsbescheinigung«, erwiderte der Leutnant.
»Eine Unbedenklichkeitsbescheinigung für eine Klimaanlage?«
Der Leutnant war in Ordnung, noch jung, aber keiner von den arroganten Schnöseln.
»Sergeant«, sagte er. »Bei Ihrer Erfahrung müssten Sie doch wissen, dass nicht alles, was die Armee Ihnen erzählt, unbedingt einen Sinn ergibt.«
Darius salutierte und machte kehrt.
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