Gone 5: Angst (German Edition)
sagte Sam verärgert. »Astrid tut das Richtige. Und derweil sitzen wir hier fest. In der Falle.«
Sams Handflächen juckten. Er ballte sie zu Fäusten.
Logik war das eine, sein Bauchgefühl das andere. Sams Bauchgefühl sagte ihm, schrie förmlich, dass er diesen Kampf mit jeder weiteren Sekunde verlor, in der er passiv blieb und sich in Geduld übte.
Die aufgehende Sonne warf dunkle Schatten auf Astrids Seele. Zu wissen, dass es passieren würde, war eine Sache. Zusehen zu müssen, wie es passierte, eine ganz andere.
Der Himmel war im Begriff zu verschwinden. Sie sah zum letzten Mal das Tageslicht.
Sie blickte sich um, versuchte sich zu orientieren. Und wäre fast in Panik geraten. Die Straße nach Perdido Beach verlief in südwestlicher Richtung und folgte der Flanke des Santa Katrina Gebirges, bis sie kurz vor der Küste auf den Highway stieß. Nur, die Straße war nirgends zu sehen.
Astrid hatte sich in eine Talsohle verirrt, die zwischen zwei steilen Berghängen hindurchschnitt.
Das Santa Katrina Gebirge war nicht besonders hoch, stand man jedoch unmittelbar davor, war es einschüchternd. Steil hinaufragende Hänge, die braun und ausgetrocknet dalagen, seit es in der FAYZ nicht mehr regnete. Sie erinnerte sich, sie einmal vom Highway aus gesehen zu haben. Das war an einem verregneten Tag im Dezember gewesen, und da waren sie buchstäblich vor ihren Augen grün geworden. Doch jetzt war nur noch nackter Fels übrig, verdorrtes Gestrüpp und knorrige, halb tote Bäume.
Die Straße lag vermutlich irgendwo westlich von ihr. Aber bis dorthin konnten es mehrere Kilometer sein.
Sie war auch so schon viel zu spät dran. Inzwischen war der Morgen angebrochen. In Perdido Beach dürften sie sich inzwischen ihr eigenes Bild machen. Sie wollte ihnen aber dennoch die solidarischen Grüße vom See bestellen und Sams Angebot, Licht zu bringen.
Und selbst das erforderte Eile. Sie war überzeugt, dass manche Kids die Stadt bereits verließen und sich zum See aufmachten.
Am schnellsten wäre sie, wenn sie zwischen den Bergen geradeaus weiterliefe. Vorausgesetzt, die Talsohle bildete eine einigermaßen gerade Linie und endete in keiner Sackgasse.
Astrid joggte los. Das Leben in den Wäldern hatte sie fit gemacht und solange sie Wasser hatte, konnte sie dieses Tempo zur Not stundenlang durchhalten.
Die Berghänge stiegen zu beiden Seiten hin ziemlich steil an. Doch der zu ihrer Rechten kam ihr mit der Zeit immer bedrückender, höher und finsterer vor. Der Gipfel war eine nackte Felsspitze und sah aus wie ein grimmig dreinblickender Schädel, der zu ihr herunterschaute.
Sie lief auf einem ebenen und relativ trittfesten Pfad dahin. Wahrscheinlich ein ehemaliges Bachbett. An den Rändern war es von dürren, flach gedrückten Gräsern überwuchert.
Astrid nahm zu ihrer Rechten eine Bewegung wahr. Als schösse etwas den unheimlichen Berg hinauf. Sie lief weiter, immer wieder zur Seite blickend, sah aber nichts.
Mach dich nicht verrückt, sagte sie sich. Im Wald war ihr das ständig passiert: ein Rascheln, eine plötzliche Bewegung, ein Aufblitzen im Gestrüpp. Und dann war es nie ihr ärgster Feind gewesen, Drake mit seiner Peitschenhand, sondern nur ein harmloses Tier: ein Vogel, ein Eichhörnchen oder ein Stinktier.
Bloß war das Gefühl, beobachtet zu werden, jetzt kaum noch abzuschütteln. Als würde der grimmige Berg sie im Auge behalten und nicht mögen, was er da sah.
Weiter vorne bog der Pfad nach links ab. Astrid war froh, dass sie den finsteren Berg gleich hinter sich lassen konnte. Als sie die Kurve jedoch passiert hatte, spürte sie mit jeder Faser, dass ihr Beobachter nun hinter ihr war.
Und näher kam.
Alles in ihr drängte sie zur Flucht. Aber sie durfte jetzt nicht die Kontrolle verlieren.
Sie bog in eine unübersichtliche Kurve und da wäre sie fast in ihn hineingerannt.
Astrid blieb stehen. Starrte auf ihr Gegenüber. Und schrie.
Sie taumelte schreiend rückwärts. In ihrer Panik dachte sie nicht gleich daran, ihre Waffe zu ziehen. Doch dann zerrte sie das Gewehr von der Schulter, tastete mit zitternden Fingern nach dem Abzug und legte es an.
Sie zielte auf die Augen. Diese grauenhaften, winzig kleinen Glaskugelaugen in den blutverkrusteten schwarzen Höhlen.
Es war ein Junge. Sie brauchte mehrere Herzschläge, bis diese Tatsache in ihr Bewusstsein drang. Kein Ungeheuer, kein Zombie, sondern ein Junge. Er war braun gebrannt und hatte kräftige Schultern. Über sein Gesicht liefen tiefe Kratzer.
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