Gone Girl - Das perfekte Opfer: Roman (German Edition)
gut.«
Ich schaute auf die Wanduhr, und Boney berührte meine Hand.
»Hey, warum rufen Sie jetzt nicht einfach mal Amys Eltern an? Die sind Ihnen bestimmt dankbar.«
Es war schon nach Mitternacht. Gewöhnlich gingen Amys Eltern um neun Uhr schlafen; sie prahlten seltsamerweise immer damit, dass sie so früh ins Bett gingen. Jetzt schliefen sie tief und fest, ich würde sie mit meinem Anruf aus dem Bett scheuchen. Die Handys wurden Viertel vor neun ausgeschaltet, also musste Rand Elliott den ganzen Weg von seinem Bett bis zum Ende des Flurs zurücklegen, um das alte schwere Telefon abzunehmen. Er würde mit seiner Brille herumfummeln und vorsichtig nach der Tischlampe tasten. Und sich dabei alle Gründe dafür aufzählen, weshalb er sich wegen eines nächtlichen Anrufs überhaupt keine Sorgen zu machen brauchte, lauter vollkommen harmlose Gründe, warum das Telefon ausgerechnet jetzt klingelte.
Ich wählte zweimal und legte schnell wieder auf, ehe ich beim dritten Mal wartete, bis jemand dranging. Es meldete sich Marybeth, nicht Rand, und ihre tiefe Stimme brummte in meinen Ohren. Ich kam bis zu: »Marybeth, hier ist Nick«, dann wusste ich nicht mehr weiter.
»Was ist los, Nick?«
Ich holte tief Luft.
»Ist was mit Amy? Sag schon.«
»Ich, äh – tut mir leid, ich hätte schon anrufen sollen …«
»Raus damit, verdammt!«
»Wir k-können Amy nicht finden«, stotterte ich.
»Ihr könnt Amy nicht finden ?«
»Ich weiß nicht …«
»Amy wird vermisst?«
»Wir sind nicht sicher, wir sind …«
»Seit wann?«
»Wir sind nicht sicher. Ich bin heute Morgen kurz nach sieben aus dem Haus …«
»Und du hast bis jetzt gewartet, uns anzurufen?«
»Tut mir leid, ich wollte nicht …«
»Großer Gott. Wir haben heute Abend Tennis gespielt. Tennis, und wir hätten … Mein Gott. Weiß die Polizei Bescheid? Hast du sie alarmiert?«
»Ich bin gerade auf dem Revier.«
»Bitte gib mir die Person, die für die Sache verantwortlich ist, Nick. Bitte.«
Wie ein Kind zog ich los und holte Gilpin. Meine Schwiegermami möchte mit Ihnen sprechen.
Das Telefongespräch mit den Elliotts machte die Sache offiziell. Die Situation – Amy ist verschwunden – verbreitete sich nach draußen.
Ich war auf dem Weg zurück in den Verhörraum, als ich die Stimme meines Vaters hörte. In besonders beschämenden Augenblicken hatte ich oft seine Stimme im Kopf. Aber jetzt war es die Stimme meines Vaters, hier, in der Realität. In feuchten Blasen bahnten sich seine Worte ihren Weg, wie etwas aus einem ekligen Sumpf. Schlampe, Schlampe, Schlampe . Irre, wie er war, hatte er die Angewohnheit angenommen, jeder Frau, die ihn auch nur ansatzweise nervte, dieses Schimpfwort an den Kopf zu werfen: Schlampe, Schlampe, Schlampe . Ich spähte in einen Konferenzraum, und da saß er auf einer Bank an der Wand. Früher war er ein attraktiver Mann gewesen, dynamisch, mit einem Grübchen im Kinn. Schrill verträumt, so hatte meine Tante ihn einmal beschrieben. Jetzt saß er da, knurrte den Boden an, seine blonden Haare waren verfilzt, die Hose verdreckt, seine Arme zerkratzt, als hätte er sich einen Weg durch ein Dornengestrüpp gebahnt. Auf seinem Kinn war ein dünnes Speichelrinnsal, das glänzte wie eine Schneckenspur, und er ließ die Armmuskeln spielen, die noch nicht ganz verlottert waren. Neben ihm saß eine Polizistin, den Mund ärgerlich verzogen, und versuchte, ihn zu ignorieren: Schlampe, Schlampe, Schlampe, ich hab’s dir gesagt, Schlampe .
»Was ist denn hier los?«, fragte ich die Frau. »Das ist mein Vater.«
»Haben Sie unseren Anruf denn nicht bekommen?«
»Was für einen Anruf?«
»Dass Sie Ihren Vater abholen sollen.« Sie sprach überdeutlich, als wäre ich ein geistig zurückgebliebener Zehnjähriger.
»Ich – meine Frau ist verschwunden. Ich war fast den ganzen Abend hier.«
Sie starrte mich an, ohne wirklich eine Verbindung herzustellen. Ich konnte sehen, wie sie innerlich debattierte, ob sie ihr Druckmittel aufgeben und sich entschuldigen, womöglich nachfragen sollte. Dann fing mein Vater wieder an zu schimpfen, Schlampe, Schlampe, Schlampe, und sie beschloss, ihr Druckmittel doch lieber zu behalten.
»Sir, Comfort Hill hat den ganzen Tag versucht, Sie zu erreichen. Ihr Vater ist heute früh durch einen Notausgang weggelaufen. Er hat ein paar Kratzer, wie Sie ja sehen, aber nichts Schlimmes. Vor ein paar Stunden haben wir ihn aufgegriffen, er ist völlig desorientiert die River Road entlanggeirrt.
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