GONE Hunger
verwirrt.
»Füttern?«, wiederholte Drake.
Caine hörte ihn kaum. Sein Gehirn schien ins Stolpern geraten zu sein.
Füttern?
Was hatte er damit gemeint?
Wen hatte er damit gemeint?
»Ihr könnt alle gehen«, sagte er zerstreut.
Als sich keiner rührte, wurde er deutlicher: »Haut ab und lasst mich allein!« Dann fügte er hinzu: »Sie bleibt hier.«
Als die anderen gegangen waren, kniete er sich wieder vor Orsay hin. »Du hast ihn gesehen, nicht wahr? Du hast ihn gespürt. Er ist in deinen Verstand eingedrungen. Komm schon, ich sehe es dir an.«
Orsay leugnete es nicht. »Er war in den Träumen des kleinen Jungen.«
»Welcher kleine Junge?« Caine runzelte die Stirn. »Der kleine Pete? Meinst du ihn?«
»Er braucht den kleinen Jungen. Der Gaiaphage. Er wil l …« Orsay suchte nach dem richtigen Wort. Als sie es fand, überraschte es sie selbst. » … lernen.«
»Lernen?« Caine packte sie am Arm und drückte so fest zu, dass sie zusammenzuckte. »Was will er lernen?«
»Etwas zu erschaffen.«
Was wollte die Dunkelheit von einem Vierjährigen lernen? »Geh rein«, flüsterte Caine. Er ließ Orsays Arm los. »Geh!«
Als sie weg war, durchforstete Caine sein Gedächtnis. Er starrte zu den Bäumen am Rand des Coates-Geländes, als würde sich dort eine Erklärung verbergen.
Und dann schalten wir die Lichter aus und füttern di e …
Er hatte sich nicht versprochen. Er hatte etwas Konkretes sagen wollen. Etwas, was getan werden musste.
Hungrig im Dunkeln.
Ihm war, als hätte die Dunkelheit sein Gehirn mit einem Seil gefesselt. Als hielte sie ein Seilende fest, um daran zu reißen, wann immer ihr danach war.
»Er ist hungrig«, sagte der kleine Pete.
»Du meinst, du bist hungrig«, korrigierte Astrid ihren Bruder automatisch. Als wäre Petes größtes Problem eine fehlerhafte Grammatik.
Sie waren in Sams Büro im Rathaus. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Kids, die in Scharen mit ihren Wünschen oder Beschwerden ankamen. Ein paar Dinge regelte Astrid selbst, den Rest schrieb sie für Sam auf.
Sam hatte Recht: So konnte es nicht weitergehen. Die Leute kamen zu ihnen, weil sie Zoff mit ihren Geschwistern hatten. Oder weil sie wissen wollten, ob sie sich Filme ansehen durften, die erst ab zwölf freigegeben waren. Oder weil Sam entscheiden sollte, ob sie ihre Zahnspange weiter tragen mussten oder nicht. Das war lächerlich.
»Er ist hungrig«, wiederholte der kleine Pete, den Blick wie immer starr auf seinen Gameboy gerichtet.
»Möchtest du etwas essen?«, fragte Astrid. »Ich kann nachsehen, ob ich etwas finde.«
»Er kann nicht sprechen.«
»Natürlich kannst du sprechen, Petey.«
»Ich lass ihn nicht. Seine Worte sind schlimm.«
Astrid blickte ihn scharf an. Auf Petes Gesicht war der Ansatz eines Lächelns zu sehen.
»Und er ist hungrig«, flüsterte er. »Hungrig im Dunkeln.«
»Weil Sam es so will«, wiederholte Edilio zum x-ten Mal. »Und weil wir verhungern werden, wenn wir nicht auf die Felder gehen.«
»Kannst du mich nicht ein andermal drannehmen?«, bettelte der Junge.
»Hör zu, alle würden am liebsten ein andermal drankommen. Aber die Melonen müssen jetzt gepflückt werden. Also steig in den Bus. Und setz dir was auf. Mach schon.«
Edilio blieb in der offenen Haustür stehen und wartete, bis der Junge seine Baseballkappe gefunden hatte. Seine Laune wurde immer schlechter, je weiter der Vormittag voranschritt. Im Bus saßen achtundzwanzig Kinder, die rummeckerten, aufs Klo mussten, hungrig und durstig waren, sich zankten, jammerten und flennten.
Inzwischen war es fast elf. Bis er sie auf die Felder gebracht hatte, würde es zwölf sein, und dann würden alle fragen, was es zum Mittagessen gab. Er wusste, was er ihnen antworten würde: Pflückt euer Mittagessen selbst, es liegt direkt vor eurer Nase.
Wenn er den Jungen und sich selbst mitrechnete, waren sie dreißig Leute. Nach vier Stunden Arbeit hätte jeder von ihnen vielleicht siebzig bis achtzig Melonen geerntet. Das klang nicht schlecht, aber nur so lange, bis man die Summe durch dreihunderteinunddreißig hungrige Mäuler teilte und feststellte, dass man ganz schön viele Melonen futtern musste, um satt zu werden.
Was Edilio wirklich beunruhigte, waren die vielen Früchte, die bereits verfault waren. Und die Vögel, die sie fraßen. Und dass niemand sich überlegte, was sie als Nächstes anpflanzen sollten.
Sein Zeitplan war optimistisch gewesen. Als sie nach einer fürchterlichen Busfahrt, auf der
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