GONE Lügen
Bildern, die mit Klebestreifen befestigt waren.
Justin blieb wie angewurzelt im Türrahmen stehen.
Dann zog er sich leise zurück, drehte sich um und ging in sein Zimmer. Der große Junge hatte ihn nicht gesehen.
Auch sein Zimmer sah nicht mehr so aus wie früher. Das Bett war abgezogen, Laken und Decken fehlten. Wo war seine Lieblingsdecke? Die kuschelige blaue?
»Hey.«
Justin fuhr erschrocken herum.
Der große Junge sah ihn fragend an. »Keine Angst«, sagte er. »Ich tu dir nichts.«
Justin starrte ihn an. Er wirkte nicht böse. Viele von den Großen waren richtig gemein, aber der hier schien in Ordnung zu sein.
»Hast du dich verlaufen?«, fragte der Große.
Justin schüttelte den Kopf.
»Verstehe. Ist das dein Haus?«
Justin nickte.
»Alles klar. Tut mir leid, ich brauchte ein Dach über dem Kopf und hier war niemand.« Er sah sich um. »Ich mag dein Haus. Ist richtig gemütlich.«
Justin fing an zu weinen.
»Hey, komm schon, nicht traurig sein. Wenn du willst, zieh ich wieder aus. Ich meine, an Häusern herrscht ja nun echt kein Mangel, stimmt’s?«
Justin hörte auf zu weinen. »Das ist mein Zimmer.«
»Cool.«
»Ich weiß nicht, wo meine Decke ist.«
»Hä? Ach so. Irgendwo finden wir sicher eine Decke für dich.«
Nachdem sie sich eine Zeit lang schweigend angestarrt hatten, sagte der Große: »Übrigens, ich heiße Roger.«
»Ich bin Justin.«
»Sie nennen mich auch den Künstler, weil ich so gerne zeichne. Und Bücher lese.«
Justin starrte ihn immer noch an.
»Magst du Bücher?«, fragte Roger ihn, bekam aber keine Antwort. »Verstehe, du kannst noch nicht lesen. Ich mach dir einen Vorschlag. Ich kann dir ja ab und zu was vorlesen. Was meinst du? Als Bezahlung dafür, dass du mich in deinem Haus wohnen lässt.«
Justin wusste nicht, was er sagen sollte. Also schwieg er.
»Na gut«, sagte Roger. »Ic h … ä h … ich geh jetzt wieder in mein Zimmer.«
Justin nickte eifrig.
»Wenn das für dich okay ist.«
»Ja, ist okay.«
Zehn
51 Stunden, 50 Minuten
»Das ist unser letzter Rest Benzin«, stellte Virtue betrübt fest. »Damit können wir den Generator noch zwei, maximal drei Tage in Betrieb halten. Danach haben wir keinen Strom mehr.«
Sanjit seufzte. »Wie gut, dass wir das Eis schon letzten Monat aufgefuttert haben, sonst würde es jetzt schmelzen.«
»Hör mal, Wisdom, es ist höchste Zeit.«
»Nenn mich nicht so. Das ist mein Sklavenname.«
Das war ein alter und schon reichlich abgenutzter Witz zwischen ihnen. Virtue nannte Sanjit nur dann Wisdom, wenn er ihn provozieren wollte oder wenn er ihn im Verdacht hatte, nicht bei der Sache zu sein.
Im Leben von Sanjit Brattle-Chance hatte es eine Zeit gegeben, in der ihn alle so genannt hatten, aber damit war seit sieben Monaten Schluss.
Sanjit war vierzehn Jahre alt, groß und schlaksig, hatte schulterlanges schwarzes Haar, verschmitzte schwarze Augen und eine karamellfarbene Haut.
Bis zu seinem achten Lebensjahr hatte er sich als Hindu und Waise im buddhistischen Thailand auf den Straßen von Bangkok durchgeschlagen, bis eines Tages die sehr berühmten, sehr reichen und sehr schönen Schauspieler Jennifer Brattle und Todd Chance aufgekreuzt waren und ihn entführt hatten.
Sie hatten es Adoption genannt.
Den Namen Wisdom hatten sie ihm gegeben. Doch dann waren sie verschwunden. So wie alle anderen Erwachsenen auf der Insel San Francisco de Sales. Auf einen Schlag waren sie weg gewese n – das irische Kindermädchen, der alte japanische Gärtner und die drei mexikanischen Handwerker, der schottische Butler und die sechs polnischen Hausmädchen, der katalanische Koch und seine beiden baskischen Hilfsköche, der Pool-Mensch aus Arizona, der Tischler aus Florida und der Künstler aus New Mexico, der auf windschiefe Blechschilder gemalt hatte. Alle weg.
Geblieben waren nur die fünf Kinder.
Außer ihm und Virtue, dem Sanjit den Spitznamen »Choo« gegeben hatte, gab es noch Peace, Bowie und Pixie. Keiner von ihnen war mit diesen Namen zur Welt gekommen. Sie waren alle Waisenkinder wie er und stammten ursprünglich aus dem Kongo, aus Sri Lanka, der Ukraine und aus China.
Sanjit hatte als Einziger stur darauf bestanden, seinen Geburtsnamen zu behalten. Auf Hindi bedeutete Sanjit »unbesiegbar«, und er fand, dass das eher auf ihn zutraf als »weise«.
Seit sieben Monaten traf er die Entscheidungen, was nicht immer leicht war, denn er musste möglichst klug dabei vorgehen. Zum Glück hatte er Virtue. Virtue war zwar
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