Good Girls
üblich »AUSGEZEICHNET« steht. Mr Lambright findet meine Ideen gut, aber ich muss noch an den Übergängen arbeiten. Ich muss diesen Gedanken mit jenem verbinden. Immer einen Fuß vor den anderen setzen. So wie wenn ich von der Englischstunde zur Geschichtsstunde gehe. Und die vielen Gesichter sehe, die mich anstarren. Die kichernden Münder und Pete Flanagan, der seine Hüften kreisen lässt und gaaanz langsam den Reißverschluss seiner Hose öffnet.
Geschichte. Ich sitze zum Glück in der letzten Reihe. Dummerweise habe ich vergessen, dass Chilly direkt neben mir sitzt. Ich sehe, wie er kichert. Wie er mich anstarrt. Wie er sich mit gespieltem Entsetzen die Hände vors Gesicht schlägt. Ich höre, wie er sagt: »Wer hätte gedacht, dass du so eine Schlampe bist?«
Eigentlich müsste ich darauf antworten: »Ich mach’s mit jedem, nur nicht mit dir.« Aber ich schaffe es nicht. Mein Mund ist zu trocken. Ich sehe weder ihn noch irgendjemanden anderen an. Ich konzentriere mich auf die Zusätze der amerikanischen Verfassung: eins, zwei, drei, vier, fünf.
Nach dem Klingeln teilt Mr Gulliver den Test aus und ich fange an zu schreiben. Die Antworten kommen wie aus der Pistole geschossen und füllen meinen Kopf. Ich schreibe, bis ich einen Krampf in den Fingern bekomme. Bis es klingelt.
Chilly sagt: »Klingelingeling die Post ist da.«
Chilly sagt: »Verbotene Liebe oder verbotene Triebe.«
Chilly sagt: »Die Sonne bringt es an den Tag!«
Chilly sagt: »Oh, mein Gott, was werden nur deine Eltern sagen, wenn sie es erfahren?«
Ich werfe meinen Test auf Mr Gullivers Pult und renne los.
Ich warte nicht auf Ash. Ich renne den ganzen Weg nach Hause. Mein Rucksack stößt mir bei jedemSchritt gegen den Rücken. Ich weiß, was mich erwartet, wenn ich die Haustür öffne: Meine Mutter sitzt mit aufgeklapptem Laptop am Küchentisch und starrt vor sich hin oder auf den Bildschirm.
Aber so ist es nicht. Als ich in die Küche komme, steht Mom vor dem Spülbecken und blickt mit gerunzelter Stirn hinein.
Ich sollte etwas sagen. »Hallo.«
»Hallo, Audrey. Sieh dir das an«, sagt sie und deutet ins Becken. »Ist das eine Grille? Oder ein Grashüpfer?«
Ich sehe nach unten. Brauner Käfer, große Augen, lange Sprungbeine. »Warum springt er nicht aus dem Spülbecken, sondern sitzt einfach nur da?«
»Das weiß ich auch nicht«, entgegnet Mom. »Vielleicht ist er ein bisschen dumm?«
»Oder tot.«
»Armes Ding. Wir werden ihn ein bisschen in Frieden lassen.« Sie tätschelt meinen Kopf – ich bin zwar längst größer als sie, aber sie tätschelt mich immer noch – und macht die Kühlschranktür auf. Sie zieht eine Flasche Grapefruitlimo heraus. Sie trinkt nichts anderes. Grapefruitlimo mit null Kalorien. Ich sage ihr, dass Kohlensäure bei Frauen in den Wechseljahren Knochenschwund verursacht (Merkt ihr was? Ich sehe mir regelmäßig Nachrichtenmagazine im Fernsehen an). Aber sie sagt nur: »Ich rauche nicht und trinke kaum Koffein. Da wird so ein bisschen Osteoporose schon nicht schaden.« Sie versucht, mich nicht zu ernst zu nehmen. Sie versucht,alles nicht zu ernst zu nehmen. Sie sagt, wir haben nur ein Leben und wir müssen jeden Tag genießen. Ihr neues Buch heißt Kennst du den Muffinmann? und handelt von einem fröhlichen, aber mörderischen Bäcker. Sie hat dafür alle möglichen Rezepte für Muffins recherchiert und probiert sie nun an uns aus.
Sie streckt mir einen Teller hin. »Preiselbeer-Orange-Hafer«, sagt sie. »Ein bisschen krümelig, aber trotzdem lecker.«
»Nein, danke.«
Sie bricht sich ein Stück Muffin ab und steckt es sich in den Mund. Dann stellt sie den Teller wieder auf den Küchenschrank. »Alles in Ordnung mit dir? Du siehst ein bisschen blass um die Nase aus.«
»Mir geht’s gut.«
Mom zieht die Augenbrauen hoch, sagt aber nichts. Sie wird einfach abwarten. Das ist ihre Spezialität. Warten. Es hat zehn Jahre gedauert, bis eines ihrer Bücher veröffentlicht wurde. Trotzdem schien es ihr nie etwas auszumachen. »Mir gefallen sie«, hat sie immer gesagt. »Vielleicht gefallen sie eines Tages auch jemandem anderen.« Und so war es dann auch. Es war zwar nur ein kleiner Verlag, aber das machte nichts. Geduld ist eine Tugend, sagt sie, aber ich bin nicht wie sie. Ich kann nicht warten. Ich bin sechzehn, aber ich wäre lieber sechsundzwanzig oder noch besser sechsunddreißig. Frei und unabhängig irgendwo in der weiten Welt, wo man jemanden strafrechtlich verfolgen kann, weil er ein
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