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Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Titel: Goodbye Chinatown: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Kwok
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abzuschneiden. Bei diesem Kampf hatte ich tatsächlich eine Chance.
    Noch wichtiger aber war, dass ich Annette – das Mädchen mit den krausen Haaren – kennengelernt hatte. Nach dem Vorfall mit dem Radiergummi stupste sie mich fast unmerklich
mit dem Ellbogen an. Ich schielte zu ihr hinüber und senkte den Blick dann auf ihren Block, auf den sie »Mr Boshaft« geschrieben hatte, neben eine Strichmännchenzeichnung von Mr Bogart mit einem Loch für seinen brüllenden Mund. Ich wusste nicht, was boshaft bedeutet, aber ich verstand, dass sie mich aufmuntern wollte, und freute mich. Annette meldete sich nur selten im Unterricht – ich glaube, weil sie Mr Bogart nicht mochte –, aber sie wusste meistens die richtige Antwort. Immer wenn Mr Bogart eine Frage stellte, schrieb sie die Antwort auf ihren Block und zeigte sie mir. Da ich viel besser lesen als sprechen konnte, war diese Art der Kommunikation ideal für mich.
    So geschah es, dass Annette die Schule wieder erträglich machte.
     
    In der eisigen Dezemberkälte begannen Mama und ich, Tag und Nacht den offenen Backofen laufen zu lassen, damit wenigstens ein bisschen Wärme in die Wohnung kam. Aber schon wenige Schritte von seinem kleinen Wärmekreis entfernt ließ sich nicht mehr sagen, welches Zimmer eisiger war: die Küche oder der Raum, in dem wir schliefen. In der Küche stand zwar der Backofen, aber dafür waren die Fenster nur mit Mülltüten isoliert. Im anderen Zimmer gab es überhaupt keine Wärmequelle.
    In Hongkong hatte ich eine hellblau-weiße Schuluniform getragen und war direkt nach der Schule wieder zu Sandalen und nackter Haut zurückgekehrt. Ich war es gewöhnt, meine Zehenspitzen zu sehen, meine nackten Waden und Schultern. Jetzt, wo alles ständig bedeckt sein musste, vermisste ich meinen Körper richtig. Ich war regelrecht einbalsamiert mit Kleidern, Schicht für Schicht, und manchmal vergingen Tage, ohne dass ich meinen eigenen Körper zu sehen bekam.
Die kurzen Momente, in denen ich meine Haut entblößen musste, reduzierte ich auf ein Minimum, weil mir die eisige Luft wie eine bösartige Hand aufs Fleisch schlug. Das Anziehen am Morgen, bei dem ich die über Nacht aufgewärmten Kleidungsstücke durch Sachen ersetzen musste, die vor lauter Kälte beinahe auf der Haut brannten, war eine Tortur.
    Statt Strumpfhosen, wie andere Mädchen, trug ich zwei warme Pyjamahosen unter meiner Cordhose. Unter dem einzigen Pullover, den wir für mich aus Hongkong mitgebracht hatten, trug ich gleich mehrere Unterhemden. Der Pullover war einmal hübsch gewesen, eine rote Strickjacke mit zwei Pandabären auf den Taschen, aber sie war eingelaufen, und das Weiß der Pandas hatte sich durch häufiges Waschen zu einem hellen Rosa verfärbt. Es wurde immer schwieriger, die Strickjacke über die vielen Kleiderschichten zu ziehen, aber mir blieb keine andere Wahl. Ganz zum Schluss zog ich noch meine Jacke darüber, aber selbst wenn ich mich in alle meine Kleider gezwängt hatte und aussah wie eine Kugel Klebereis in einem Bambusblatt, fror ich erbärmlich. Der einzige Vorteil an der Kälte war, dass sie die Anzahl an lebenden Kakerlaken und Mäusen zu dezimieren schien.
    Wir erledigten so viel wir konnten neben dem Backofen: meine Hausaufgaben, die Wäsche, das Anziehen, die Arbeit an den Kleidern, die wir säckeweise aus der Fabrik mit nach Hause brachten. Es war praktisch unmöglich, den Anforderungen in der Fabrik gerecht zu werden, und so schickte mich Mama oft allein nach Hause, während sie in der Fabrik blieb und so viel Arbeit wie möglich erledigte. Wenn es irgendwie ging, brachte sie die Kleider in Plastiksäcken mit nach Hause. Egal, wie lange ich wach blieb, um meine Hausaufgaben zu machen – ich kann mich nicht erinnern, dass Mama jemals vor mir ins Bett ging. Immer war da eine dünne Gestalt, die
sich über irgendein Kleidungsstück beugte, dabei einnickte und dann wieder aufschreckte, um weiterzumachen. Wenn eine Lieferung fällig war, mussten wir in der Fabrik bleiben, bis die Arbeit erledigt war, selbst wenn es die ganze Nacht dauerte.
    Die Wärme des Backofens schaffte es nie bis zu den Wänden, dem Boden, den Möbeln. Von sämtlichen Gegenständen wurde die Kälte auf unsere Körper zurückgeworfen, die, von den Mäusen einmal abgesehen, die einzige Wärmequelle im ganzen Gebäude waren. Sogar direkt vor dem Backofen waren meine Zehen und Fingerspitzen ständig taub, und es machte Mühe, sie zu bewegen. Das war besonders ungünstig, weil

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