Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
versprechen, aber ich glaube, dass du durchaus Chancen hättest.«
»Wirklich?« Der Gedanke, wie Annette auf eine noble Privatschule zu gehen, war für mich bisher völlig unvorstellbar gewesen.
»Aber mach dir lieber nicht zu viele Hoffnungen. Wir sind spät dran mit der Bewerbung. Die normale Bewerbungsfrist ist bereits abgelaufen. Jede Schule, die dich jetzt noch annimmt, müsste dich außerplanmäßig einschieben, und es kann sein, dass die Büttschees schon ausgeschöpft sind.«
»Vielleicht Harrison?«, fragte ich. Das war die Schule, auf die Annette gehen sollte.
Mrs LaGuardia lachte. »Da hast du dir ja hohe Ziele gesetzt. Lass mich ein paar Anrufe tätigen, ja? Ich melde mich dann wieder bei dir, Kimberly. Du kannst jetzt gehen, aber noch einmal: Mach dir nicht allzu große Hoffnungen. Es ist eher unwahrscheinlich, dass es klappt.«
Als ich aus Mrs LaGuardias Büro zurückkam, ohne von der Schule geflogen zu sein, wollte Luke jeden Tag mit mir kämpfen. Wir tauschten noch ein paar Mal Schultaschenstöße aus, bis schließlich ein anderes Mädchen spitzkriegte, worum es bei der Sache eigentlich ging. Sie entwickelte bereits einen
Frauenkörper und war mit ihren weichen braunen Locken und ihrer cremeweißen Haut viel hübscher als ich. Sie begann, Luke herauszufordern, so als wollte sie mich verteidigen.
»Wehe, du schikanierst meine Freundin«, sagte sie und ging mit dem Gesicht ganz nah an ihn heran. Sie hatte vor diesem Tag noch nie ein Wort mit mir gesprochen, aber ich war ihr trotzdem dankbar.
Es dauerte nicht lange, bis Luke ihr seine volle Aufmerksamkeit widmete.
»Willst du kämpfen?«, fragte er.
Sie mussten nur einmal kämpfen, bevor sie dazu übergingen, auf dem Schulhof zu knutschen. Endlich verstand ich: Ich war nicht etwa in einen Kampf verwickelt gewesen, sondern in einen Balztanz, dessen Regeln ich verletzt hatte, indem ich Luke beim ersten Mal so heftig getreten hatte. Ich schämte mich. Wenigstens brachte mir der Vorfall so etwas wie Respekt vom Rest der Klasse ein, und ich begann, mich ein wenig heimischer zu fühlen.
In jenem Frühjahr fanden noch zwei andere denkwürdige Ereignisse statt: Ostern, ein Feiertag, der mit Hasen und Eiern zu tun hatte, und das Schulfoto. Weil Mama und ich uns kein Foto leisten konnten, behielt ich einfach den Abzug, den ich mit nach Hause bekam und auf dem das Wort PROBEABZUG quer über meine Brust gestempelt war. Der nächste Elternsprechtag kam und ging, ohne dass Mama etwas davon mitbekam.
Nach Ostern erfuhr ich von Mrs LaGuardia, dass sich die Harrison Preparatory School tatsächlich für mich als Stipendiatin interessierte. Wenn ich sie richtig verstanden hatte, bedeutete das, dass die Schule bereit war, für mich aufzukommen,
allerdings unter der Voraussetzung, dass ich es hinterher auf ein gutes College schaffte. Das erschien mir ein akzeptabler Handel. Was konnte ich der Schule auch sonst bieten?
Mrs LaGuardia machte für Mama und mich einen Termin in der Harrison Preparatory School aus, die in einem Teil von Brooklyn lag, den ich noch nie betreten hatte.
Mama war ganz atemlos vor Aufregung, als ich ihr davon erzählte. »Was für eine Chance! Ich bin so stolz auf dich!« Aber als sie das Datum erfuhr, runzelte sie die Stirn. »So bald schon? An dem Abend muss die Lieferung raus!«
»Kein Problem. Ich kann alleine hingehen.«
»Können wir den Termin nicht verschieben?«
»Mama, ich würde mich zwar freuen, wenn du mitkämest, aber ich will nicht, dass du in der Fabrik Probleme bekommst. Du darfst dort keinen Arbeitstag versäumen.«
Mama machte ein trauriges Gesicht. »Ich wünschte, du müsstest das nicht alleine machen. Ich werde Räucherstäbchen für dich anzünden.«
Ich selbst durfte dem Unterricht an besagtem Tag fernbleiben und musste mit drei verschiedenen U-Bahnen zur Harrison School fahren. Dann ging ich ein Stück zu Fuß und richtete mich dabei nach dem Stadtplan, den ich bekommen hatte, bis ich zu einer riesigen, bewaldeten Fläche kam. Das war ein Teil von Brooklyn, von dessen Existenz ich nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Es sah anders aus als alles, was ich bisher gesehen hatte, sogar anders als Annettes Viertel. Alles war so schön und friedlich, man hätte meinen können, man sei auf dem Land.
Was ich für einen Park hielt, gehörte bereits zum Campus von Harrison, wie sich später herausstellte. Die Schule war so alt, dass sie über beträchtlichen Landbesitz verfügte. Die
Grünfläche mit ihren
Weitere Kostenlose Bücher