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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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nicht nur von ›Eugen Onegin‹, sondern auch von einem Band mit Gedichten, die dermaßen schlüpfrig seien, dass sie nirgendwo abgedruckt werden könnten, schon gar nicht in einem Schulbuch. Unterdessen wurde der offizielle Puschkin, nachdem er auf einem vornehmen Lyzeum, dreißig Kilometer außerhalb von Petersburg, brilliert habe, bis zu seinem Tod mit |283| siebenunddreißig Jahren im Gefolge eines Duells immer mehr zum Inbegriff literarischer Tugend, eifrig damit beschäftigt, die russische Dichtung zu revolutionieren und gegen die zaristische Unterdrückung zu kämpfen. Handelt es sich hier um zwei verschiedene Männer, der eine gleichsam der Inbegriff der Rechtschaffenheit, der andere ein Lüstling und Lebemann? Ist dieser bislang unbekannte, schamlose Puschkin derselbe Dichter, der die Szene verfasst hat, in der Tatjana ihrem geliebten Onegin sagt, sie habe einen anderen geheiratet und werde ihrem Ehemann für alle Zeiten treu sein? Tante Mila zuckt mit den Schultern und lächelt mich unbestimmt an.
    Aber sie belässt es nicht bei Puschkin. Über die Hälfte jener Klassiker, die während des Literaturunterrichts von der Wand auf uns herabstarrten, weiß sie Geschichten zu erzählen. Der offizielle Turgenjew aus den Lehrbüchern schrieb über den moralischen Konflikt zwischen persönlichem Glück und Pflicht und über
lischnije ljudi
, überflüssige Menschen. Wie alle anderen musste ich die Geschichten aus seinen ›Aufzeichnungen eines Jägers‹ auswendig lernen, Schilderungen von blassen russischen Birken und durchsichtigem Rauch aus Bauernkaten, die sich über etliche engzeilig bedruckte Seiten hinzogen und, wie meine Lehrerin Nina Sergejewna beteuerte, allein von einem wahrhaft russischen Autor mit tiefer Verbundenheit zu seinem Heimatland und dessen Natur, von einem Mann mit zutiefst russischer Seele verfasst werden konnten. Laut Tante Mila verbrachte der echte Turgenjew sein gesamtes Erwachsenenleben im Ausland und stellte einer verheirateten Opernsängerin quer durch Europa nach, ohne auch nur einen Gedanken an das Schicksal der Leibeigenen, genannt
duschi
– auf Russisch bedeutet dieses Wort auch »Seelen«   – zu verwenden. Der Turgenjew meiner Tante besaß eine Menge Seelen, die sich auf seinem Gut in der Heimat allesamt neugierigen Blicken entzogen.
    |284| Tante Mila liebt die Weißen Nächte, und an Abenden, an denen die üblichen Leningrader Wolken in Richtung Finnland gezogen sind, machen wir einen Spaziergang, nachdem meine Mutter den Fernseher ausgeschaltet hat und ins Bett gegangen ist. Sie könne ohnehin nicht schlafen, sagt Tante Mila, denn selbst um Mitternacht scheine ihr das Licht in die Augen, so hell wie mittags. Als wir an der Isaakskathedrale und der Admiralität vorbeischlendern, verschmilzt die Sonne mit den Dächern und verschwindet hinter den Fassaden des Newski-Prospekts, um sogleich wieder aufzugehen, noch bevor Tante Mila mir alles über Herzen erzählen kann. Wir gehen durch die Herzenstraße, vorbei am Pädagogischen Institut, das ebenfalls nach ihm benannt ist. Besagter Herzen unterminierte, wie jedermann weiß, von seinem sibirischen Exil aus die zaristische Regierung, während er seine endlosen Memoiren mit dem Titel ›Erlebtes und Gedachtes‹ verfasste. Seiner historischen Bestimmung, »eine revolutionäre Agitation zu entfesseln«, kam er nach, als der Aufstand der Dekabristen von 1825 ihn aus der aristokratischen Amnesie wachrüttelte, ein Lenin-Zitat, das wir alle zu Beginn der achten Klasse auswendig lernen mussten.
    Anstatt eine revolutionäre Agitation zu entfesseln, pendelt Tante Milas Herzen zwischen Paris und London, zunächst mit seiner Frau Natascha, dann mit der Frau seines Freundes, die ebenfalls Natascha heißt, und zeugt ein Kind nach dem anderen. Wir sollten Mitleid mit Alexander Herzen haben, sagt Tante Mila. Er sei Emigrant gewesen, wie Turgenjew und Bunin und all die anderen, die freiwillig oder gezwungenermaßen emigriert seien. Sie würden alle zurückblicken, fügt sie mit einem Seufzer hinzu, würden alle Russland vermissen. Ihre Seelen (nicht zu verwechseln mit ihren Leibeigenen) seien gen Osten gewandt.
    |285| Ich weiß nicht, warum Tante Mila, die in ihrem eigenen Land ihr Essen in einem Nachttisch verstecken muss, denkt, sämtliche russischen Emigranten seien unglücklich. Wäre ich unglücklich, wenn man mich zwingen würde, in Paris oder London zu leben? Wenn ich, anstatt mich für Fleischwurst und Gurken anzustellen, zwischen

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